"Meine Tochter hat einen Krampfanfall! Bitte, kommt schnell!" Ein Anruf genügt, um das Adrenalin freizusetzen – und das Polizeiauto von Officer Martinez von null auf hundert zu bringen. Seit einigen Jahren ist sie in Longview, einer texanischen Kleinstadt, gut zwei Stunden von der Metropole Dallas entfernt, als Polizistin im Dienst. Wenn sie ihrer Arbeit nachgeht, zu verheerenden Unfällen und teils auch blutigen Tatorten ausrückt, ist sie nicht immer allein. Oft begleitet sie eine Person, die mit dem Longview Police Department eigentlich in keiner Verbindung steht.

"Ride Along" heißt das Programm, das die US-Amerikanische Polizei anbietet, um "Zivilisten ein besseres Verständnis zu geben, wie die Exekutive arbeitet." Sprich: Wer in einem Polizeiauto mitfahren will, muss nicht unbedingt ein Verbrechen begehen. Oft genügt es auch, einfach ein Anmeldeformular auszufüllen und dann eine ganze Schicht lang "Jobshadowing" zu betreiben.



Sogar Touristinnen und Touristen dürfen an dem Programm teilnehmen. Notorische Berühmtheit hat es hierzulande unter anderem durch Jack Unterweger erlangt. Der österreichische Serienmörder soll in den 90ern in Hollywood die Polizei begleitet und sich so mit der städtischen "Unterwelt" vertraut gemacht haben. In derselben Gegend wurden wenig später Prostituierte ermordet – die Taten soll Unterweger begangen haben. Später wurde er in Österreich aufgrund weiterer Fälle des Mordes schuldig gesprochen und nicht rechtskräftig verurteilt, bevor er in seiner Zelle Suizid beging.

Keine Zeit zum Nachdenken

Doch zurück nach Texas. Die Möglichkeit, eventuell selbst Verbrecher als Beifahrer mitzuführen, ist Officer Martinez bis jetzt noch nicht in den Sinn gekommen. Oder sie lässt sie schlicht und einfach kalt. Wenn sie in Blitzgeschwindigkeit zum nächsten Einsatzort eilt, bleibt ohnehin keine Zeit für Gedankenspiele. "Interessenten an 'Ride Alongs' gibt es immer wieder", sagt sie, während sie durch die Straßen Longviews düst. Der Streifenwagen zischt an diversen Fast-Food-Ketten – Taco Bell, Domino's, Wendy's – vorbei, bevor die sogenannten Strip-Malls (kleine Einkaufsmeilen) mehr und mehr typischen US-amerikanischen Wohnhäuser mit Verandas und Vorgärten weichen. "Meistens sind es Angehörige von Polizistinnen oder Polizisten. Oder Menschen, die gerade in Ausbildung sind."

Die Portraitierung US-amerikanischer Polizeiautos in Filmen und Serien ist ziemlich treffend: Rechts neben Martinez ist ein Computer, der sie nicht nur zum Einsatzort navigiert, sondern auch zeigt, welche weiteren Zwischenfälle das Longview Police Department aktuell auf Trab halten. Per Funk wird sie in Echtzeit über das Geschehen informiert: Ein wütender Kunde, der im lokalen Walmart randaliert; ein Mann, der zwei junge Mädchen auf dem Nachhauseweg verfolgt und in Bedrängnis bringt; eine Frau, die von ihrem Freund bedroht wird und verzweifelt um Hilfe bittet. Martinez registriert die Fälle mental, konzentriert sich aber auf ihren eigenen Einsatz. Es vergehen wenige Minuten, die sich aber wie eine Ewigkeit anfühlen, bis Martinez endlich in die Siedlung einbiegt, in der "ihr" Notruf abgesetzt worden ist. Jede Sekunde zählt.

So sieht ein US-amerikanisches Polizeiauto von innen aus
So sieht ein US-amerikanisches Polizeiauto von innen aus © Mann

Schon von Weitem kann man die Blaulichter eines Feuerwehr- und eines Rettungswagens erkennen. "Die Polizei wird zu medizinischen Notfällen gerufen, da oft ermittelt werden muss", erklärt Martinez. Zum Beispiel, wenn das Kind blaue Flecken hat – ein mögliches Indiz für häusliche Gewalt. Martinez springt aus dem Auto und eilt mit ihren Kolleginnen und Kollegen ins Haus, in dem das Kind vielleicht gerade um sein Leben ringt. Eine Regel des "Ride Alongs": Man muss stets im Polizeiauto bleiben. Aus Sicherheitsgründen.

"Ride Alongs" – nicht ganz ungefährlich

Das ist nicht die einzige Auflage. So dürfen beispielsweise Waffen nicht mitgeführt werden, obwohl sie in Texas normalerweise offen getragen werden können. Und: Wird man bei einem Einsatz verletzt, oder kommt man dabei sogar um, trägt das Longview Police Department keinerlei Haftung. Dem stimmt man bereits bei der Anmeldung zu.

Je nach Möglichkeit werden "Ride Along"-Teilnehmer zum Präsidium gebracht, bevor es zu einem brenzligen Einsatz kommt. Doch nicht immer ist dafür Zeit. 2016 fand sich eine Passagierin in Kalifornien in einer Schießerei wieder. Eine weitere Schießerei, die eine "Ride Along"-Kandidatin 2007 in Idaho beobachten musste, endete für die Polizisten tödlich. 

Unterwegs mit der Polizei in Longview, Texas
Unterwegs mit der Polizei in Longview, Texas © Mann

In Longview werden Martinez und ihre Kollegschaft immer wieder zu Einsätzen gerufen, bei denen es um Leben und Tod geht: Anfang Juni kam ein 19-Jähriger bei einer Schießerei ums Leben. Wenige Tage zuvor hatte eine Massenkarambolage neun Verletzte und zwei Todesopfer gefordert. Auch wenn Martinez selbst bei diesen Einsätzen nicht im Dienst war, sind es Tragödien wie diese, die besonders in Erinnerung bleiben. In der Polizeizentrale hängen außerdem Plaketten, die an jene Polizisten erinnern sollen, die im Dienst ums Leben gekommen sind. 

Die Plaketten erinnern an die Polizisten in Longview, die im Einsatz gestorben sind
Die Plaketten erinnern an die Polizisten in Longview, die im Einsatz gestorben sind © Mann

Doch zurück in die Gegenwart. Mehrere Minuten vergehen, bis das Kind auf einer Trage aus dem Haus und in den Rettungswagen gebracht wird. Mit ernster Miene setzt sich Martinez wieder in ihren Streifenwagen, sie gibt aber Entwarnung: "Es war wohl doch kein Krampfanfall, das Kind scheint hohes Fieber zu haben. Zur Beobachtung wird es ins Krankenhaus gebracht." Es ist nur einer von dutzenden Einsätzen, zu denen Martinez heute noch gerufen wird: So löst etwa ein um sich wütender Pitbull einen Polizeieinsatz aus – am Ende entpuppt sich das Tier als harmloser Welpe. Weitaus dramatischer ist der Fall einer Frau, die mit ihrem Lebensgefährten im Streit bedroht wird.

Als Martinez vor ihrer Haustüre steht, zittert und weint die Frau. Der Lebensgefährte hat noch vor Eintreffen der Polizei das Weite gesucht und so kann ihn Martinez nicht konfrontieren. Doch sie ermutigt die Betroffene und informiert sie über Anlaufstellen gegen häusliche Gewalt. Ein Nachbar öffnet kurz die Tür, sieht das Polizeiauto und verschwindet wieder in seiner Wohnung. In der Ferne ist eine Sirene zu hören. "In diese Gegend müssen wir oft ausrücken", sagt Martinez, zurück im Streifenwagen. "Das Haus dort drüben", sie zeigt auf einen etwas heruntergekommenen Bungalow mit ungepflegtem Rasen, "wir glauben, dass hier Drogen verkauft werden. Deshalb drehen wir hier bewusst unsere Runden."

Bevor sie zum nächsten Einsatz gerufen wird – Zeugen berichten über Teenager, die im nahegelegenen Park um sich schießen und es offenbar auf Enten abgesehen haben; am Ende waren es "nur" Luftgewehre – kontrolliert Martinez mit ihrem Polizeicomputer Nummernschilder, die ihr unterkommen. Stimmt eines nicht mit dem jeweiligen Auto überein, kommt es zu einer Kontrolle. 

Martinez weiß, dass sogar der harmloseste Einsatz eskalieren kann: "Einmal hat eine Autofahrerin, die wir aufhalten wollten, versucht zu flüchten und es kam zu einer turbulenten Verfolgungsjagd." Bei ihrer Festnahme meinte die Frau, die einen abgelaufenen Führerschein hatte, dass sie der Polizei nicht über den Weg traute und deshalb nicht stehen blieb. Anstatt einer Verwarnung endete für sie der Abend aufgrund der Verfolgungsjagd im Gefängnis. 

Rechts: Die Polizeistelle in Longview
Rechts: Die Polizeistelle in Longview © Mann

Auch wenn es eine vergleichsweise ruhige Schicht war, ging an jenem Juni-Nachmittag für Martinez alles Schlag auf Schlag. In Texas, wo die Menschen besonders viel Wert auf ihr Recht legen, eine Waffe zu tragen, ist stets Vorsicht geboten. 

"Ride Alongs" in Österreich?

Auch in Österreich können Polizeieinsätze eskalieren. Das ist einer der Gründe, warum "Ride Alongs" hierzulande nicht erlaubt sind. "Die Mitnahme einer Zivilperson würde nicht nur die Person selbst gefährden, sie könnte auch notwendige Sofortmaßnahmen behindern und damit eine Gefahr für alle beteiligten Personen darstellen", sagt Lisa Sandrieser, Pressesprecherin der Landespolizeidirektion Kärnten (LPD), auf Anfrage der Kleinen Zeitung.

Recht selten, aber doch hin und wieder erreichen die LPD dennoch Anfragen von Interessierten: "Eine Ausnahme haben wir zum Beispiel im vorletzten Sommer gemacht, als uns ein junger Mann auf dem Polizeiboot begleitet hat. Er ist ein großer Fan der Polizei und wir konnten ihm damit einen lang ersehnten Herzenswusch erfüllen." Jedoch passierte das außerhalb des polizeilichen Regeldienstes. 

Um der breiten Masse Einblicke in die Arbeit der Polizei zu bieten, wird alle zwei Jahre – das nächste Mal im kommenden Jahr – in der Polizeikaserne in Krumpendorf ein Familienfest veranstaltet. Sandrieser: "Unabhängig davon können sich interessierte Menschen jederzeit auf unserer Homepage unter: www.polizeikarriere.gv.at informieren und eine Bewerbung einreichen."