Wenn Winnetou mit Old Shatterhand durch die Prärie reitet, verwendet er auch gerne mal Vokabular der Lakota oder der Sioux. "Dabei ist Winnetou laut den Büchern ein Apache. Das zeigt, dass sie mit der Realität nicht viel zu tun haben", sagt Michael Paul Hill. Der 48-Jährige ist San Carlos Apache, politischer Aktivist, Reservats-Rechtsanwalt, angewandter Anthropologe und Medizinmann. Wenn die Winnetou-Debatte von jemandem beurteilt werden kann, dann von ihm. Wobei er und seine Gemeinschaft sich selbst in der Regel nicht als Apachen bezeichnen. "Apache bedeutet 'Feind'. Ich verwende das Wort nur, weil es allgemein bekannt ist, aber wir bezeichnen uns selbst als Nde oder Ndee. Das bedeutet 'Das Volk'."
Das Vokabular Winnetous ist nicht das einzige Indiz dafür, dass die Karl-May-Romane genau das sind: Romane, also fiktive Geschichten. "Die Art und Weise, wie die Kultur in den Büchern und Produktionen materialisiert wird, stimmt einfach nicht", sagt Hill. Das umfasst die Kleidung, das Auftreten der Figuren und noch mehr.
Das Leben im Reservat
Wenn Hill über seine Kultur, die Gesellschaft und das, was ihn bewegt, spricht, lacht er oft und viel. Sein Humor spiegelt sich auch auf sozialen Netzwerken wider, wo er gerne Memes teilt. Darunter etwa das Bild eines Häuptlings mit der sarkastischen Bildunterschrift: "Ich stimme Trump zu, wir sollten ALLE Migranten loswerden." Denn das Land, das Hill und seiner Gemeinschaft eigentlich zustehen würde, gehört ihnen nicht mehr. Zumindest nicht offiziell. Er und 10.000 der gut 16.000 San Carlos Apachen leben – wie viele andere Stämme – in einem Reservat; also einem Landstück, das die Regierung ihnen zur Verfügung stellt. "Es gehört uns nicht, weil die Regierung auf die Eroberung verweist", sagt Hill trocken. Das ist nur eine von vielen Ungerechtigkeiten, die seinem und den anderen Stämmen im Laufe der Jahrhunderte widerfahren sind.
Ein Teil des Reservates der San Carlos Apachen gehört zur Sonora-Wüste. Bei dem Begriff "Wüste" denken viele an unendliche Weiten und Sand-Dünen. Die Landschaft der Sonora-Wüste ist aber geprägt von Riesen-Kakteen und anderen Pflanzen und Sträuchern. "Es ist jeden Tag heiß, besonders jetzt. Wobei aktuell auch Monsun-Zeit ist", erklärt Hill. Dadurch ist der San Carlos Lake wieder gut mit Wasser gefüllt – Wasser, das er und seine Mitmenschen aber nicht trinken, weil der Boden vergiftet ist, so Hill. Dazu gleich mehr.
Arbeitslosigkeit und Süchte
Eingegrenzt ist das Reservat, in dem Michael lebt, mit Stacheldraht. Menschen, die keinem Stamm angehören, dürfen es nicht betreten. Hill: "Im Alltag gibt es hier nicht viele Beschäftigungsmöglichkeiten, deshalb versucht die Regierung uns mit kleinen Paraden, Skate-Parks oder anderen Unterhaltungsmöglichkeiten von den richtigen Problemen abzulenken." Damit meint er etwa die Arbeitslosenquote von 75 Prozent oder die Alkohol- und Drogensucht, die sich breitmacht: "Die Kriminalitätsrate ist hoch und wir haben mit vielen Krankheiten zu kämpfen."
Auf die Frage, welche Krankheiten das sind, wird Hills Miene ernst. Neben Adipositas und Diabetes ist es Krebs, so Hill. Die Los Angeles Times berichtet davon, wie die Krebsrate der Stämme in den USA zwischen 1990 und 2009 dramatisch angestiegen ist. "Winnetou würde heute an Krebs sterben. Wie gefällt den Leuten das?", fragt Hill. Er führt den Anstieg auf ein Herbizid zurück. Die Chemikalie Agent Orange hat durch die Verwendung im Vietnam-Krieg traurige Bekanntheit erlangt. Was hierzulande wenige wissen, worüber aber auch schon die LA Times berichtet hat: Augenzeugen berichten davon, wie in den 60er-Jahren über den Reservaten eine ähnliche Chemikalie getestet worden sein dürfte. Auch nach Veröffentlichung des Artikels blieb der große öffentliche Aufschrei aus. Hill und seine Landsmänner und -frauen kämpfen weiter für Gerechtigkeit – und meiden das Grundwasser.
Das Beispiel Vietnam zeigt aber, dass dieser Kampf kein leichter ist. Im Mai des vergangenen Jahres hat ein Gericht die Klage einer Frau vietnamesischer Herkunft abgewiesen. Sie hatte von den Agent-Orange-Herstellern – darunter Monsanto – Schadenersatz gefordert. Man habe großes Mitgefühl mit der Klägerin und allen Menschen, die unter dem Vietnam-Krieg gelitten haben, teilte der Pharma- und Agrarchemiekonzern Bayer, der Monsanto übernommen hat, mit. "Es ist allerdings seit vielen Jahren von Gerichten anerkannt, dass Unternehmen, die zu Kriegszeiten im Auftrag der US-Regierung produzierten, nicht für mögliche Schäden verantwortlich sind", hieß es weiter. Hill fordert ebenfalls, dass Monsanto und andere Unternehmen Verantwortung übernehmen. Er weist darauf hin, dass Bayer ein Unternehmen aus Deutschland ist – eines der Länder, das Winnetou so verehrt.
Kampf um Erhalt heiliger Plätze
Nicht nur Hills Gemeinschaft, auch andere Stämme plagt eine Reihe an Problemen, die bei Karl May Festspielen oder Filmadaptionen elegant ignoriert werden – passen sie doch nicht in das romantische Bild, das der Autor mit seinen Geschichten illustriert. Streit um Wasserrechte, Kindersterblichkeit, Armut und fehlender Internetzugang (Anmerkung: Letztgenanntes hätte May tatsächlich noch nicht berücksichtigen können), um nur einige zu nennen. Auch um den Erhalt ihrer heiligen Plätze müssen die San Carlos Apachen kämpfen – darunter Mount Graham, auf dem Satelliten-Schüsseln aufgestellt worden sind. Aus Sicht des indigenen Volkes eine Entweihung.
"Ein anderer heiliger Platz ist Oak Flat, der demnächst von einer Minengesellschaft ausgebeutet werden soll und dadurch verschwinden wird, genau auf diesem Platz wird nichts mehr als ein riesiges Loch im Boden sein", sagt auch Angelika Fröch, die Teil des "Arbeitskreis Indianer" mit Sitz in Wien ist und sich für die Rechte der indigenen Völker Nordamerikas einsetzt. "Wer die Verbundenheit der Apachen mit dem Land kennt, weiß, welche Tragödie das für sie ist." Bei all diesen Problemen geht es Hill nicht um Mitleid, sondern um Bewusstseinsschärfung. Bei diesen Herausforderungen, auch da seien die Karl-May-Fans gefordert, so Hill.
Womit Karl May recht hatte
Bei einer Sache war May dann aber doch akkurat, wie der 43-Jährige findet: "Freundschaft und Gerechtigkeit; diese Werte sind uns wichtig, so wie sie Winnetou wichtig sind." Ebenso wie die religiösen Rituale, die trotz der Unterdrückung ihren Weg in die Gegenwart gefunden haben. Das erste Mal erfuhr er übrigens in den 80er-Jahren von den Büchern – und zwar durch Gäste aus der Schweiz, die sein Vater in Arizona willkommen hieß: "Ich dachte mir nur, wer ist dieser Typ?" Damals, so Hill, standen nicht die rassistischen Stereotypen im Vordergrund. Seine erste Reaktion auf Winnetou? "Kein Wunder, dass alle Deutschen ihn lieben. Ich würde ihn auch lieben."
Generell sieht er der verzerrten Darstellung der Kultur in den Romanen locker entgegen: "Eben weil es pure Fiktion ist." Wichtig ist, dass die Leserinnen und Leser sich dessen aber auch bewusst sind. Wesentlich kritischer sieht Hill die Begleiterscheinungen davon: "In der Schweiz habe ich gesehen, dass es Winnetou-Eislutscher gibt. Da hast du deinen Indianer am Stiel? Nein, macht das bitte nicht."
Und auch kulturelle Aneignung ist problematisch, vor allem wenn damit Geld gemacht wird: "Ich sehe immer wieder Angebote für sechswöchige Schamanen-Schulen und denke mir nur: Wie ist das möglich? Es ist sehr unangebracht, wenn Menschen Dinge hernehmen, über die sie nichts wissen. Dahinter stecken unzählige Stunden Arbeit, Ausdauer und Lehre. Daher ein klares Nein zu kultureller Aneignung." Was er wiederum an der Diskussion rund um Karl May zu schätzen weiß: Ohne Winnetou gäbe es diesen Austausch, wie er aktuell stattfindet, gar nicht.
Claudia Mann