Wenn wir an die 90er Jahre zurückdenken, denken wir an eine Zeit vor Smartphones und sozialen Netzwerken. An eine Zeit, in der man Tamagotchi fütterte, Batik-Muster trug, Musikkassetten sammelte und so seine ersten Berührungspunkte mit legendären Bands wie den Red Hot Chili Peppers feierte. Kurzum: Wir denken an eine unbeschwerte Zeit.
In der Netflix-Reportage „Woodstock ’99“ zeichnet sich ein etwas anderes Bild ab. In der Doku wird der katastrophale Ablauf des Festivals analysiert, das als Woodstock-Neuauflage ein fröhliches, respektvolles und friedliches Beisammensein hätte sein sollen. Profitgier, mangelndes Security-Personal, unhygienische Bedingungen und eine Reihe an Aufständen machten das Festival im Jahr 1999 aber zu einem Desaster. Ein Desaster ist aber nicht nur die Veranstaltung an sich, sondern auch der Umgang der Doku mit Sexismus und sexueller Gewalt.
Woodstock '99: Der Trailer
Im Zuge des Wochenendes ist es zu mehreren Vergewaltigungen gekommen - unter anderem direkt vor der Bühne während eines Konzertes. Im Anschluss an das Festival ermittelte die Polizei wegen vier Vergewaltigungen, in manchen Berichten ist von fünf die Rede. Die Dunkelziffer dürfte auf Basis von Augenzeugen-Berichten weitaus höher sein. Teils ist sogar von Massenvergewaltigungen die Rede. Hinzu kommen unzählige weitere sexuelle Übergriffe. Frauen, die sich von der Menge tragen ließen, wurden die Bikinis vom Leibe gerissen. Nackte Haut sahen viele Männer als Einladung, zu grapschen.Anstatt die talentierte Sheryl Crow zu feiern, riefen ihr Männer zu, sie solle ihre "Titten" zeigen. Was Besucherinnen und Besucher in der dreiteiligen Doku schildern, macht sprachlos. Aber nicht nur das.
"Bekam vor Ort kein großes Momentum"
Einer der Verantwortlichen für das Festival, der in der Netflix-Doku interviewt wird, ist John Scher. Seine Reaktion auf die sexuellen Übergriffe? Mit seinen 200.000 Besucherinnen und Besuchern sei Woodstock wie eine kleine Stadt. Scher führt aus: „Wenn man das in Betracht zieht, würde ich sagen, dass es in einer Stadt dieser Größe mindestens genauso viele oder mehr Vergewaltigungen gibt.“ Er wolle das nicht gutheißen, aber „es bekam vor Ort kein großes Momentum, außer natürlich für die Frauen, denen es passiert ist.“
Was John Scher sagt, ist absolut empörend. Was aber mindestens genauso auffällt ist die Tatsache, dass das Gesagte kommentarlos, kurz und bündig wiedergegeben wird, bevor man sich dem nächsten Thema widmet. Das mag vielleicht der Stil des Dokumentarfilms sein, doch durch diesen Umgang werden die Betroffenen, denen ohnehin oft nicht geglaubt oder die Schuld zugeschoben wird, retraumatisiert; wird dadurch doch angedeutet, dass sexuelle Übergriffe das Problem der Opfer seien, nicht etwa der Täter oder gar der gesamten Gesellschaft. Dieser Problematik hätte man in der Doku eine gesamte Episode widmen können. Stattdessen wird das Thema oberflächlich binnen wenigen Minuten abgehandelt. Zurück bleiben viele offene Fragen, die die Producer stellen hätten sollen - insbesondere was die Zeit nach dem Festival und die Ermittlungen sowie Anzeigen angeht.
Sexismus und der verharmlosende Umgang mit daraus resultierender Gewalt ist keine „Modeerscheinung“ der 90er und schon gar nicht ein Ding der Vergangenheit. Frauen können ein Lied davon singen. Dieser Umgang ist bis heute ein Problem. Die Netflix-Doku hat das, obgleich wohl ungewollt, demonstriert. Der Ton macht die Musik und in diesem Fall haben sich sowohl Scher als auch die Macher der Mini-Serie ganz deutlich im Ton vergriffen.
Claudia Mann