Wenn Max* (Name von der Redaktion geändert) von seiner Mutter spricht, verwendet er meist das englische "Mom". Seine Mutter ist bipolar. Oder manisch-depressiv, wie es umgangssprachlich heißt. "Eine bipolare Erkrankung ist gekennzeichnet durch krankhafte Stimmungsschwankungen", erklärt Eva Reininghaus. Sie ist Leiterin der Spezialambulanz und Forschungseinheit Bipolar und Vorständin der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin an der MedUni Graz. "Das heißt, bei den Betroffenen gibt es ganz normale Gemütszustände, aber eben auch Zustände, in denen eine Depression oder aber eine Manie beziehungsweise Hypo-Manie vorherrscht." 

Über seine Mutter und ihre Krankheit zu sprechen, fällt Max schwer. Das hat er bereits im Vorfeld zu unserem Gespräch angekündigt. Wir treffen uns zum Video-Interview auf Zoom. Max wirkt gefasst, erzählt offen über seine Kindheit und Jugend - in manchen Momenten ist seine Stimme brüchig.

Ein ständiges Auf und Ab

Als seine Mutter die Diagnose erhielt, war der heute 32-Jährige noch ein Kind. "Meine Mutter kommt aus einem kleinen, sehr katholischen Ort. Ihr Vater war der Bürgermeister und Feuerwehrhauptkommandant." Als Max' Eltern sich dazu entschließen, den Zeugen Jehovas beizutreten, kommt es zum Zerwürfnis mit der Herkunftsfamilie. "Zu der Zeit ist die Krankheit meiner Mom stark ausgebrochen." Die Ärzte tun sich damals schwer damit, die Krankheit zu erklären. Noch schwerer fällt es den Eltern von Max, die Krankheit zu verstehen.

"In der Depression ist die Stimmungslage gedrückt", erklärt Eva Reininghaus. Geprägt sind die depressiven Phasen Betroffener von Antriebs-, Lust- und Freudlosigkeit. Das Gegenteil dazu stellt die Manie dar. "Da sind die Betroffenen von der Stimmung her sehr gehoben, sind super gut drauf, sehr lust- und freudvoll und haben sehr viel Energie. Sie brauchen kaum Schlaf und sind sehr aktivitätsgeladen. Sie haben das Gefühl, sie schaffen alles." Sofern Betroffene das eigene Verhalten noch unter Kontrolle haben, spricht man von einer Hypo-Manie - sozusagen die Vorstufe zur Manie. "Bei einer ausgeprägten Manie haben die Leute irrsinnig viele Pläne, aber bringen eigentlich nicht mehr viel weiter, weil sie nicht mehr bei einer Sache bleiben können", so die Expertin.

Tabuthema Bipolare Störung

Die Diagnose der Mutter wird zum Tabuthema. Max' Eltern wollen ihn und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder schützen, erzählen erst einmal nichts von der Krankheit. Erst zwei Jahre später erfahren sie die Wahrheit, als die Mutter in einer depressiven Phase für mehrere Monate ins Krankenhaus muss. Max ist zu dem Zeitpunkt elf Jahre alt.

"Unbewusst mitbekommen habe ich es aber schon früher, so mit sieben, acht Jahren", erinnert er sich. "Ich blame meine Eltern nicht dafür, dass sie es uns nicht früher gesagt haben. Ich glaube, wir hätten das - oder zumindest die Tragweite - nicht verstanden." 

Irgendwie anders als die anderen Mütter

Im Volksschulalter schleicht sich bei Max zum ersten Mal das Gefühl ein, dass seine Mutter anders als die andere Mütter ist. "Wenn meine Mom gut drauf war, hat sie ganzen Raum unterhalten. Sie war immer im Mittelpunkt, sie hat musiziert und geschauspielert und alles gleichzeitig gemacht." Als Kind habe ihm das natürlich imponiert. Die anderen Phasen habe es aber auch damals schon gegeben - die, in denen von der ausgelassenen Heiterkeit nichts mehr übrig und seine Mutter plötzlich wie ausgewechselt war.

So erinnert er sich an einen Zirkusbesuch. Seine Mutter hatte Gutscheine, die Familie war voller Vorfreude auf das Spektakel, das sie erwarten würde. An der Kassa dann allerdings die Ernüchterung: Die Gutscheine waren nicht mehr gültig. Die Mutter schien das Ganze nicht auf sich sitzen lassen zu wollen: "Sie ist dann aggressiv geworden und hat dem Zirkusdirektor gegen den Fuß getreten. Ich weiß noch, wie ich damals vor allen Leuten gestanden bin und mir dachte 'Hey, da stimmt etwas nicht'. Ich habe dann zu meiner Tante gesagt, 'Hol die Mama da weg'. Da war ich ein 8-jähriger Bua."

Verhaltensweisen wie diese sind nicht untypisch für Menschen mit einer bipolaren Störung. "Betroffene können die Realität nicht mehr richtig einschätzen: Was ist jetzt wirklich real und was ist nicht mehr in Ordnung?", erklärt Eva Reininghaus. "Die Enthemmung ist ein Kernthema in solchen Momenten" 

"Die Mama ist gegangen"

Zwei Mal verlässt die Mutter von Max die Familie. Beide Male befindet sie sich in einer manischen Phase. "Wir kamen gerade von der Schule. Mein Papa saß da und sagte: 'Die Mama ist gegangen'." Nach einer Woche habe sie dann zum ersten Mal angerufen. Sie lebe jetzt in Klagenfurt und fange ein neues Leben an. Ihre Söhne könnten sie aber gerne besuchen kommen. "Wenn sie depressiv war, ist sie dann immer zurück gekommen", erinnert Max sich.  

Zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt

Bei Max' Mutter liegen die Phasen zwischen Manie und Depression lange auseinander. "Die jetzige manische Phase meiner Mom dauert schon über zwei Jahre an", erzählt er. Während ihrer letzten depressiven Phase hat sie über einen Zeitraum von vier Monaten nur im Bett gelegen: "Sie hat es keinen einzigen Tag geschafft, aufzustehen und rauszukommen." 

Wie eine bipolare Erkrankung verläuft, das ist von Person zu Person unterschiedlich, sagt Eva Reininghaus. Lange manische Phasen, wie die Mutter von Max sie erlebt, sind ungewöhnlich: "Der Körper und der Geist können eine ausgeprägte Manie irgendwann nicht mehr aushalten. Wir vergleichen das gerne mit einem Kassettenrekorder, bei dem man auf Vorspulen drückt." In der Folge verfallen viele Betroffene in Depressionen. Nach einer Weile kommt die Manie zurück. Die Spezialistin fasst zusammen: "Man kann es nie vorher sehen. Es gibt auch Phasen, in denen die Leute dazwischen ganz normal wirken und auch sind." 

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Bipolare Störung: Für Außenstehende kaum erkennbar

Entsprechend schwierig ist es für Außenstehende zu verstehen, dass die Betroffenen krank sind. Max weiß davon ein Lied zu singen: "Auf andere wirkt meine Mom in vielen Situationen ganz normal, sogar richtig empathisch. Wenn sie manisch ist, trifft sie neue Freunde - jeder findet sie faszinierend und witzig." In diesen Phasen streitet seine Mutter ab, krank zu sein. Viel mehr bilde sie sich ein, dass es ihr so gut geht wie noch nie und dass sie vollkommen gesund ist, erzählt Max. "In der Manie glauben bipolare Menschen häufig, alles sei eine Verschwörungstheorie gegen sie."

Auch deswegen kam es immer wieder zu Konflikten in der Familie. Max' Mutter warf dem Vater nicht selten vor, dass er nur wolle, dass sie wieder depressiv werde, sodass sie ihre Tabletten nehmen und er sie kontrollieren könne. "Natürlich machen die Medikamente sie müde. Sie würde sonst in der höchsten Maniephase keine Minute schlafen und eine Woche lang durchgehend aktiv sein." 

"Das ist nicht sie, die die Tabletten absetzt"

Die Medikamente richtig zu dosieren, ist generell schwierig. Die Dosierung variiert mit dem Hormonhaushalt. Wenn Max' Mutter in eine depressive Phase rutscht, gibt sie immerhin zu, krank zu sein - in ihren manischen Phasen hingegen lügt sie ihren Arzt an und behauptet, ausreichend zu schlafen, sodass die Medikamentendosierung nicht angepasst wird. "Wenn sie wieder 'oben' ist, setzt sie die Tabletten ab. Und trotzdem kann ich nicht ihr dafür die Schuld geben, weil das nicht sie ist, die die Tabletten absetzt."

Durch das ständige Auf und Ab fokussiert sich Max stark auf seinen Vater, der die Söhne mit Hilfe der Verwandtschaft quasi alleine aufzieht: "Mein Vater ist der Allergrößte für mich! Trotz der ganzen Sachen, die mit der Mom waren, habe ich eine unglaublich tolle Kindheit gehabt. Das ist viel meinem Dad, meinem Onkel und meiner Tante zu verdanken." Zur Mutter beginnt Max sich nach und nach zu distanzieren. Eine große Rolle spielt auch sein Freundeskreis, mit dem er viel Zeit verbringt, wenn es zuhause gerade schwierig ist. "Von sieben Tagen die Woche war ich quasi vier Tage nicht daheim. Für meinen Bruder war das damals nicht möglich. Ich habe das Gefühl, dass er es damals von allen Seiten abbekommen hat und ich mich einfach zurückgezogen habe."  

Die Angst vor der Vererbbarkeit

Dass bipolare Erkrankungen vererbbar sein können, weiß Max. Als wir auf das Thema zu sprechen kommen, wird seine Stimme brüchig: "Das ist meine absolut größte Angst." Allein deswegen habe er es sich bisher nicht vorstellen können, eine eigene Familie zu gründen: "Was mein Bruder hat mitmachen müssen, das würde ich einem Kind nie antun wollen." 

In den meisten Fällen bricht eine bipolare Erkrankung zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr aus, erklärt Eva Reininghaus. Ganz einfach sei die Frage nach der Vererbbarkeit von psychischen Erkrankungen allerdings nicht zu beantworten, sagt sie. "Es gibt verschiedene Gene, von denen man weiß, dass sie Risikogene sind. Sind mehrere dieser Risikogene verändert, wird eine bipolare Erkrankung wahrscheinlicher." Aber: "Alleine die Genetik reicht nicht aus, es müssen auch Stressoren, wie zum Beispiel Traumata, dazu kommen." 

"Ich glaube, sie hat keine Ahnung, wer sie selbst ist"

Die Krankheit der Mutter und ihr daraus resultierendes Verhalten hinterlässt Spuren bei Max. Bis heute bereitet es ihm Probleme, Vertrauen zu anderen aufzubauen. Besonders vorsichtig ist er bei Frauen: "Ich bin 32 und hatte erst eine Freundin. Nicht, weil es keine Gelegenheiten gegeben hätte - ich brauche Monate, bis ich zu jemandem überhaupt das Vertrauen habe, etwas zu empfinden."  

Als ich Max die Frage stelle, ob er - trotz allem - das Gefühl hat, dass seine Mutter ihn lieb hat, schluckt er. "Ich weiß, dass sie uns als Kinder sehr geliebt hat. Aber jetzt? Sie hat keine Ahnung, wer ich bin." Dennoch erinnert er sich auch an schöne Momente mit ihr. Momente, in denen sie normal war. "Sie ist meine Mutter und natürlich liebe ich sie - ich weiß, es ist eine Krankheit - aber sie macht es einem wirklich schwer, vernünftig mit ihr umzugehen." Eigentlich tue sie ihm manchmal leid: "Ich glaube, sie hat wirklich keine Ahnung, wer sie selbst eigentlich ist."