Es ist ein Problem, das heutzutage viele kennen: Der Handy-Akku ist kaputt, muss immer wieder geladen werden. Doch die Batterie kommt maximal auf 20 Prozent und muss nach kurzer Zeit wieder an die Steckdose. Und selbst dann will der Akku nicht so richtig funktionieren. Was aber, wenn es sich bei diesem Szenario nicht um ein Handy handelt, sondern um einen Menschen? Und was, wenn das „Leerwerden des Akkus“ mit Gliederschmerzen, Kopfschmerzen und kognitiven Problemen verbunden ist?
Für Menschen wie Rea ist das bitterer Alltag. Sie leidet — wie geschätzt 30.000 andere Österreicher_innen — unter ME/CFS (Myalgic Encephalomyelitis – Chronic Fatigue Syndrome) und damit unter chronischer Erschöpfung, wobei diese Beschreibung der komplexen Krankheit nicht ansatzweise gerecht wird. Immerhin kann sie viele Formen annehmen, was es auch schwierig macht, die Zahl der Betroffenen festzustellen. „Das Spektrum der Einschränkungen ist relativ groß, es gibt Leute, wo eine gewisse Alltagsfähigkeit, teilweise auch Arbeit, noch möglich ist, am anderen Ende finden sich dann leider sehr schwer betroffenen Menschen, die teilweise rund um die Uhr bettlägerig sind“, sagt Doktor Michael Stingl — einer der wenigen ME/CFS-Spezialisten in Österreich. „Trotz dieser Menge an Betroffenen und oft schweren Einschränkungen fallen diese Menschen im Medizinsystem oft nicht auf, da sie irgendwann aufhören, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen — sie machen die Erfahrung, dass sie oft nicht ernst genommen werden, dass empfohlene Therapien oft nicht nur nicht helfen, sondern den Zustand teilweise sogar noch verschlechtern.“
So eine komplexe Krankheit zu beschreiben ist nicht einfach, deshalb greift Rea als Betroffene gerne auf das eingangs erwähnte Handy-Beispiel zurück. „CFS steht für Chronic Fatique Synrom, aber ich bin nicht so ein Fan von dieser Bezeichnung“, sagt die 28-Jährige, die in Wien lebt und auf ihrem Blog „Rea Strawhill“ auf die Krankheit aufmerksam macht. „Durch die Bezeichnung entsteht ein falscher Eindruck. Es geht dabei um mehr als Fatigue, also Erschöpfung.“
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ME/CFS: Ein Leben mit eingeschränkten Energiereserven
Generell ist es so, dass sie und andere Betroffene stark eingeschränkte Energiereserven haben. Schöpft sie diese Reserven aus, ist sie nicht nur müde, so Rea: „Viele Betroffene sind auch komplett unfähig überhaupt aus dem Bett zu steigen, weil die Muskeln einfach nachgeben. Hinzu kommen Schmerzen, Licht- und Lärmempfindlichkeit und noch viel mehr.“ Das Ganze geht so weit, dass man teils nicht einmal die Seite eines Buches lesen kann und nach dem Staubsaugen fühlt man sich etwa so, als sei man einen Marathon gelaufen, sagt Rea, die aber darauf hinweist, dass sich die Krankheit je nach Betroffenen anders äußern kann.
Erste Symptome von ME/CFS traten bei Rea 2011 nach einer Infektion ein. Laut Stingl geht bei 70 Prozent der ME/CFS-Fällen ein Infekt der Krankheit voraus. „Andere Auslöser sind beispielsweise Operationen oder Geburt, wobei manchmal auch kein konkreter Beginn festzustellen ist“, sagt der Arzt. Bei Rea war es das Pfeiffersche Drüsenfieber, von dem sie sich nie erholt hat: „Die Ärzte haben es eher auf Allergien geschoben, die ich aber davor noch nicht hatte.“ Durchs Studium konnte sie sich noch irgendwie „durchwurschteln“, wie die gebürtige Oberösterreicherin selbst sagt. „Da war meine Zeiteinteilung relativ flexibel. Doch dann habe ich mit meiner Arbeit als Lehrerin angefangen und es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer.“ Als sie schließlich 2018 zwei weitere schwere Infekte hintereinander erlitt und sich ihr Zustand abermals verschlechtert, bekam sie eine Diagnose, die Rea irritierte: Sie habe Depressionen. „Der Umgang mit der Krankheit ist zwar psychisch belastend, aber zuvor ging es mir seelisch gut und ich war glücklich“, sagt sie heute. Sie wusste, irgendwas stimmte nicht.
„Auf die Psyche geschoben“
Rea ist mit der Fehldiagnose nicht alleine. Andere Betroffene von ME/CFS haben Ähnliches durchlebt. „Tatsächlich wird diese Krankheit oft auf die Psyche geschoben“, sagt Kevin Thonhofer, Obmann der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS zuständig ist. Gegründet wurde die Organisation 2017. Heute wird sie von gut zehn Personen ehrenamtlich verwaltet — fast alle sind selbst von der Krankheit betroffen. „Unser Ziel ist es, Erstanlaufstelle für Personen zu sein, die an ME/CFS leiden. Zudem leisten wir politische Arbeit, es muss sich endlich etwas ändern und die Krankheit mehr ins Bewusstsein gerückt werden.“
Denn bis heute werden Patient:innen oft nicht ernst genommen oder falsch diagnostiziert. Die Gründe dafür kennt Michael Stingl: „Es gibt keine Möglichkeit, ME/CFS eindeutig mit einem Labortest, einer MRT oder einer anderen diagnostischen Methode sicher und schnell zu beweisen. Die massive Erschöpfung, von der die Betroffenen berichten, ist nicht messbar. Dazu ist Erschöpfung im Rahmen von anderen Erkrankungen, wie Multipler Sklerose, Krebs oder Depressionen relativ häufig, wobei sich ME/CFS jedoch klar unterscheidet, da es hier nach oft schon sehr banaler Aktivität zu einer deutlichen Verschlechterung des Zustandes kommt.“
Die typische Zustandsverschlechterung nach Belastung – auch schon in geringen Formen – die Doktor Stingl anspricht, wird laut Thonhofer Post-Exertional-Malaise (PEM) genannt und ist nicht nur eines der wichtigsten Symptome von ME/CFS, sondern grenzt die Krankheit von anderen Formen der Fatigue ab. Die Verschlechterung des Zustandes (ein sogenannter „Crash“) tritt bei körperlicher und/oder kognitiver Belastung auf und kann über einen längeren Zeitraum von Tagen oder sogar Wochen anhalten. Nicht selten tritt diese Verschlechterung zeitverzögert auf und kann zu einer langfristigen Verschlechterung des Gesamtzustandes führen.
Ähnlichkeiten zu Long Covid
Immerhin: Durch die Pandemie bekommt nun auch ME/CFS verstärkt Aufmerksamkeit, denn die Symptome sind ähnlich wie die bei Long Covid. Bei Long Covid klagen Corona-Patientinnen und -Patienten auch nach Überwinden der akuten Infektion über Fatigue, kognitive Probleme und Belastungsintoleranz — die sogenannte Post-Exertional-Malaise (PEM), welche auch eines der Hauptsymptome von ME/CFS ist.
Stingl: „Ich gehe davon aus, dass ME/CFS die chronische Form von Long Covid ist. Das klinische Erscheinungsbild ist jedenfalls extrem ähnlich, wobei man eben sagen muss, dass sich eine postvirale Fatigue, also anhaltende Probleme nach einem Infekt, in vielen Fällen über die Monate auch wieder vollständig oder zum größten Teil zurückbilden.“ Wenn aber diese Beschwerden mehr als sechs bis zwölf Monate vorhanden sind, könne die Diagnose ME/CFS gestellt werden, so Stingl. Dementsprechende Studien belegen, dass viele Betroffene mit Long Covid im Verlauf die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllen. Forschung in Zusammenhang mit der Krankheit erweist sich dennoch als schwierig, da es viele unterschiedliche Auslöser für ME/CFS gibt.
Rea selbst wurde 2019, also erst einige Jahre nach den ersten Symptomen, durch einen Zeitungsartikel auf ME/CFS aufmerksam. Darin wurde Michael Stingl zitiert, den Rea daraufhin kontaktierte. Bis zur ME/CFS-Diagnose sollten noch Monate vergehen. Als schließlich Gewissheit bestand, hatte Rea gemischte Gefühle. Denn aktuell gibt es keine Heilung, die Therapie rein symptomatisch und laut Stingl ist nur bei wenigen Fällen die Ursache klar. Rea: „Es war ein Schock und ich brauchte mehrere Wochen, um die Diagnose zu akzeptieren. Aber andererseits war es auch eine Erleichterung, weil ich nun wusste, womit ich es zu tun habe.“
Zurechtfinden im Alltag
Heute hat sie sich einigermaßen in ihrem Alltag zurechtgefunden. Manchmal hat sie gute Tage, manchmal weniger gute. Erst kürzlich hat Rea einen online-Kurs für Digital-Marketing abgeschlossen, in der Hoffnung, in Zukunft einen Arbeitgeber zu finden, der verständnisvoll ist. Ermöglicht wurde ihr das durch den Verein Jamba Austria. „Viele Menschen, die körperlich eingeschränkt sind, können keinen 9-to-5-Job ausüben, wollen aber trotzdem arbeiten. Es ist wichtig zu erkennen, was das für eine Ressource ist“, sagt Rea. „Die Menschen wollen ja nicht abhängig vom Staat oder der Familie sein. Sie finden oft nur keine Möglichkeit, um im kleinen Rahmen beschäftigt zu werden.“
Claudia Mann