Was passiert, wenn Sätze eines Bundeskanzlers Beine bekommen und zu wandern beginnen? Und bei dieser Wanderung Journalisten, Social Media-Aktivisten, Politikerinnen, Soziologinnen die Deutungshoheit über die – nicht für die Öffentlichkeit bestimmten - Kanzlersätze erlangen? Ja, dann kann auch ein salopp hingesagter Satz, dass ein ungesunder, aber warmer Burger 1,40 Euro kostet, zum österreichweiten Großskandal hochstilisiert werden. Oder der mit einem Handyvideo ebenso aufgenommene salopp hingesagte Satz des Kanzlers: „Und jetzt wird ernsthaft behauptet, wir leben in einem Land, wo die Eltern sich für ihr Kind kein warmes Essen leisten können.“
Wie er es meinte? Nach Wochen der freien Interpretation hat er am heutigen Donnerstag unter dem Titel „Frag den Kanzler“ zu einem Treffen bei einem Wiener Heurigen Mitarbeiter von Caritas, Diakonie, AMS, Arbeiterkammer, Wirtschaftskammer eingeladen. Der Heurige bekam nun kurzfristig wieder eine Absage aus dem Kanzleramt. Alles verschoben auf morgigen Freitag und nun soll „Frag den Kanzler“ im Schutzhaus auf der Schmelz in Wien stattfinden. Notbremsung in letzter Minute. Notbremsung vor der Schlagzeile: „Kanzler diskutiert beim Heurigen über Armut.“
Ja, da fehlen manchen in der ÖVP die nötigen Sensoren. Morgen kann er dann aber gefragt werden, was er wirklich meinte, als er Frauen ohne Betreuungspflichten aufforderte, mehr zu arbeiten, falls sie zu wenig Geld hätten. Ob es interessiert, wie er es gemeint hat? Oder bei nicht wenigen die Lust am möglichen Missverständnis größer ist als das Interesse an dem, was er ausdrücken wollte? Ob im Grunde keiner wissen will, dass der Burger nur ein schlecht gewähltes Beispiel war, um eines klarzustellen: Dass ein warmes Essen um nichts teurer ist als ein kaltes.
Ob der Kanzler Eltern geraten hat, ihren Kindern einen Burger zu kaufen? Hat er nicht. Aber wen interessiert das, wenn Sätze Beine bekommen und der Verdacht, er könnte dies vielleicht gemeint haben, schon der Beweis ist. Wie im öffentlichen rechtlichen Sender ORF, der Tage nach der Veröffentlichung des zwei Monate alten Handyvideos wissen ließ: „Der Kanzler, der Eltern zu Burgern rät . .“
Ein Nachrichtensatz als Feststellung formuliert - ohne Fragezeichen. Wie auch eine Soziologin im Ö 1 Mittagsjournal das Handyvideo bereits als „Kanzlerrede“ bezeichnete. In einer anderen Sendung hieß es: Wie viel Junkfood wird uns der Kanzler noch zumuten?
Was wäre gewesen, wenn der Kanzler gesagt hätte, was Soziologen als Binsenweisheit bezeichnen? Dass Arbeit (meist) vor Armut schützt und die größte Armutsfalle die Arbeitslosigkeit ist. Ja, auch diese Binsenweisheit kann Beine bekommen. Da könnte der Vorwurf lauten: Kanzler wirft Arbeitslosen vor, schuld an ihrer Armut zu sein. Würden sie arbeiten, wären sie nicht arm! Oder: Kanzler hat keine Ahnung von den „Working Poor“. Also klarer Fall eines seelenlosen Kapitalisten. Wie SPÖ-Parteiobmann Andreas Babler wegen eines Fotos von Karl Marx gerne als „Marxist“ bezeichnet wird, um ihn in die Nähe des Sowjetkommunismus zu rücken. Auch so eine Keule, die nicht mehr hinterfragt wird.
Aber wie meinte ein Kabarettist? Es herrsche heute eine Freiheit des Verstehens. Jeder versteht, was er möchte. Und (soziale) Medien würden sich besonders freuen, wenn sie etwas falsch verstehen dürfen. Schwere Zeiten also für all jene, die glauben, ohne „Message Control“ durch das Land ziehen zu können.
Warten wir ab, ob der Kanzler morgen das Verstehen leichter ermöglicht. Und jenen, die ihn nicht verstehen wollen, es erschwert, ihn nicht zu verstehen . . . . Aber gut möglich, dass es dennoch im ORF ätzend heißen wird: Der Kanzler fühlt sich falsch verstanden und rät nun doch nicht mehr zu Junkfood . . .
Angesichts des unvorstellbaren Grauens in Israel sollte aber über die wochenlange mediale Aufregung über Burger- und Teilzeitjob-Aussagen nur mehr der Mantel des Schweigens gelegt werden. Wie meinte Nehammer? Wir sollten Österreich nicht schlechtreden. Ja, wir könnten zwischendurch auch dankbar sein, in einem kleinen Paradies wie Österreich mit einem immer noch gut gespannten Sozialnetz leben zu können.
Einen Tag ohne Missverständnisse wünscht Ihnen