Wenn das nicht der Stoff des nächsten Hollywood-Blockbusters ist. Eine junge Frau, die aus einer Fleischhauerfamilie aus einer Kleinstadt hinter dem Eisernen Vorhang stammt und sich bereits in jungen Jahren der damals noch exotischen RNA-Forschung verschrieben hat, stößt in ihrer Heimat bald an berufliche Grenzen. Sie wandert nach Amerika aus, wobei sie wegen der Devisenbestimmungen 1000 Euro in den Teddy ihrer Tochter einnähen muss. Nach ein paar Forschungsjahren an einer US-Uni erhält sie ein lukratives Angebot von der Konkurrenz, muss es aber ausschlagen, weil ihr bisheriger Vorgesetzter sie sonst aus den USA abschieben lassen will.
Der Nichtwechsel erweist sich als Glücksfall. Beim Kopiergerät ihres Instituts lernt sie durch Zufall einen Kollegen kennen, mit dem sie eine kongeniale Symbiose im Bereich der mRNA-Forschung eingehen sollte. Privat haben sie nichts miteinander am Hut. Beide leiden aber unter Schlafstörungen, was zur Folge hat, dass sie sich gelegentlich um zwei oder drei Uhr in der Nacht, wenn der eine oder andere im halbwachen Zustand einen Geistesblitz hat, die neue Erkenntnis per Mail zusenden. Die Symbiose steht auf wackeligen Beinen, denn immer wieder droht die Finanzierung zu versiegen. „Nutzlose Erkenntnis“, heißt es sinngemäß. Vor rund zehn Jahren wurde die damals 58-jährige Biochemikerin von ihrer Uni vor die Tür gesetzt und quasi in Frühpension geschickt. „I was kicked out and forced to retire“, schilderte sie gestern in einem Interview den existenziellen Tiefpunkt. Sie ging in der Not zu BioNTech. „Die haben ja nicht einmal eine Webseite“, höhnte ihr damaliger Arbeitgeber.
Der Rest ist Geschichte. 2020 hielt Corona die Welt in Atem. Beim Wettlauf um den rettenden Impfstoff machte die mRNA-Technologie und BioNTech das Rennen. Gestern wurde bekannt, dass der aus Ungarn in die USA eingewanderten Katalin Kariko und ihrem Forschungskollegen Drew Weissmann im heurigen Jahr der Nobelpreis für Medizin verliehen wird.
Ursprünglich wollte ich mich in der heutigen Morgenpost wieder den innenpolitischen Niederungen - den neusten Leaks, die wohl keine Leaks sind, den neuen, türkisen U-Ausschussplänen, die gar nicht so neu sind - widmen. Doch angesichts der spektakulären Nobelpreisvergabe sollte es keine Zumutung sein, wenn ich Sie, lieber Leserin, liebe Leser, heute vor dem Eintauchen in den innenpolitischen Morast bewahre. Bis zum regulären Wahltermin bleiben ohnehin noch 55 (!) Wochen.
Die Medizinnobelpreise eignete sich ungleich besser als morgendlicher Mutmacher. Ich hoffe nicht, dass ich einigen unbelehrbaren Mitbürgern den Tag versauere. Aber Frau Kariko und Herrn Weissmann ist es zu verdanken, dass wir das ewige Auf und Ab zwischen Lockdown und Lockerung durchbrochen haben, Covid in Schach halten können und nun wieder ein normales Leben führen dürfen.
Was die Verleihung zum Heldenepos macht: Beide Forscher haben in den letzten 40 Jahren einen Marsch durch die Wüste hingelegt, nicht wissend, wohin die Reise führt, ob sie jemals ein Ziel erreichen oder ob sie im Nirwana endet. Das ist denn auch das Los der Naturwissenschaft, die einer Reise ins Unbekannte gleicht, in neue Dimensionen vorstößt, sich letztlich in einer Black Box bewegt. Wenn der Durchbruch gelingt, wie bei Kariko, Weissmann oder auch Anton Zeilinger, erweist sich im Rückblick ohnehin alles als grenzgeniale Biografie. Kariko und Weissmann sind in den beiden letzten Jahren bereits Dutzende Ehrendoktorwürden verliehen worden. Kariko wurde vom Papst in Privataudienz empfangen, Weissmann vom spanischen König für ein Wochenende auf ein Schloss eingeladen. Der Nobelpreis ist der krönende Abschluss. Ich gehe davon aus, bald wird man beide im Weißen Haus antreffen.
Bis gestern war noch Karikos Tochter Susan Francia das bekannteste Familienmitglied, hatte sie doch zweimal olympisches Gold im Rudern für die USA geholt. „Früher war ich bei Veranstaltungen Susans Mutter“, witzelte die neue Nobelpreisträgerin. „Künftig dürfte es umkehrt sein, nun ist sie die Tochter der Nobelpreisträgerin.“ Kariko stellt eine originelle Parallele zwischen beiden Professionen, der Spitzenforschung und dem Rudern, her. „Wir rudern aus Leibeskräften und fahren rückwärts, ohne die Ziellinie zu sehen. Wir wissen nicht einmal, ob wir uns in die richtige Richtung bewegen.“ Rückblickend waren nicht nur Francis, sondern auch die beiden Spitzenforscher Kariko und Weissmann immer auf Goldkurs.
Einen wunderbaren Dienstagmorgen in der Hoffnung auf weitere spannende Nobelpreisverleihungen wünscht