Seit Jahren berichte ich über den Mai-Aufmarsch der Wiener SPÖ, diesmal war der Andrang am Rathausplatz am 1. Mai ungewöhnlich groß. Einige Kollegen meinten, dies sei als besonderer Solidaritätsakt für die in Bedrängnis geratene Parteichefin zu werten. Nach der Veranstaltung war ich mir nicht so sicher. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kundgebung ließen im Gespräch kaum ein gutes Haar an Hans Peter Doskozil und dessen Querschüsse gegen die amtierende Parteichefin, die Begeisterung über Pamela Rendi-Wagner hielt sich beim traditionellen Hochamt der Sozialdemokratie allerdings sehr in Grenzen. Auffallend viel Sympathie erntete der (nicht anwesende) Andreas Babler. 

Am nächsten Tag formulierte ich im Leitartikel „Organisatorisch und stimmungsmäßig lieferte die Wiener SPÖ eine mächtige Steilvorlage für die Parteichefin ab … Ob Rendi-Wagner auch im nächsten Jahr wieder die Hauptrede vor dem Rathaus halten wird, ist allerdings fraglich. Der Funke sprang nur teilweise rüber… Wer meint, die gestrige Machtdemonstration der selbstbewussten Wiener SPÖ, die Dimension des Aufmarsches sei ein Seismograf für die Zustimmung zur Parteichefin,  läuft Gefahr, bitter enttäuscht zu werden.“ 

Vier Tage vor dem Linzer Parteitag eine verlässliche Prognose über den Ausgang der Kampfabstimmung am Samstag abzugeben, ist schlichtweg unseriös. Einige SPÖ-Insider sind felsenfest überzeugt, dass sich der Parteitag hinter den Burgenländer stellen werden, alles andere wäre, so das Argument, eine Desavouierung der roten Basis, die Doskozil knapp, aber doch auf Platz eins gewählt hat. Ob die 609 Delegierten bei der geheimen Abstimmung in der Wahlkabine das genauso sehen? Auch ist nicht gesagt, dass die Delegierten dem Doskozil-Narrativ folgen werden, wonach die SPÖ nur unter einem Pragmatiker, nicht unter einem linken Ideologen (wie Babler) eine Chance auf den Wiedereinzug ins Kanzleramt hat. Unter Verweis auf jüngste Umfragen dürfte das Babler-Lager am Samstag in der zu erwartenden heftigen Debatte im Vorfeld der Abstimmung die Gegenerzählung auftischen, dass die SPÖ unter Doskozil mehr Wähler an das linke Parteienspektrum verlieren als Wähler aus dem rechten Spektrum an Land ziehen würde. 

Blickt man auf sozialdemokratische Urabstimmungen im übrigen Europa, fällt eines auf: Die Basis wählt meistens links, Pragmatiker haben meistens das Nachsehen. In Deutschland landete der heutige Kanzler bei der Mitgliederbefragung über die Parteispitze im ersten Wahlgang auf Platz eins, in der Stichwahl setzten sich Saskia Esken, die eine besonders linke Rhetorik an Tag legt, sowie Norbert Walter-Borjans gegen den Pragmatiker Scholz durch. In Italien gewann Elly Schlein die Basisabstimmung, mit 54 Prozent schlug die junge, progressiv geltende, selbstbewusste Politikerin überraschend Stefano Bonaccini, den Präsident der norditalienischen Region Emilia Romagna. In Frankreich ritterten 2017 mehrere SP-Granden um die Spitzenkandidatur für die Präsidentenwahl, darunter Ex-Premier Manuel Valls, Ex-Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg, Ex-Bildungsminister Benoît Hamon. In die Stichwahl schafften es Hamon und Valls, die der linke Hamon dann für sich entschied. Die Präsidentenwahl endete im Debakel, die sozialdemokratische Kandidat kam gerade auf 6,6 Prozent. In Italien wie auch in Frankreich führen die Sozialdemokraten ein Schattendasein. 

So gesehen wäre es keine Überraschung, wenn am Samstag der Traiskirchner Bürgermeister das Rennen macht - es sei denn, Doskozil und Babler finden in den nächsten 96 Stunden noch ein Arrangement. 

Einen wunderschönen Dienstag
wünscht