Eigentlich sollte ich jetzt, da Sie diese Zeilen lesen, gerade aus Italien zurückgekehrt sein. Mit dem Hochgeschwindigkeitszug um 39 Euro von Triest nach Rom, das macht den italienischen Staatsbahnen niemand nach.
Doch aus dem Interview mit der Schriftstellerin Francesca Melandri wurde nichts. Am vergangenen Dienstag erreichte mich am Abend überraschend ihre Absage, mit der Bitte, das Treffen zu vertagen.
Mit dem Herbst ist das Virus zurück. Doch im Mittelpunkt des Gesprächs hätte eine andere Pestilenz stehen sollen. Dieser Tage jährt sich zum 100. Mal der „Marsch auf Rom“ , mit dem Benito Mussolini und seine faschistischen Schwarzhemden in Italien die Macht ergriffen.
Gut 20 Jahre währte die Herrschaft des Duce. Das ist eine lange Zeit, lang genug, um ein Land nachhaltig zu prägen.
Mich hätte interessiert, wie dieses faschistische Erbe bis heute nachwirkt. Glaubt man den vielen besorgten Stimmen in Europa, steht mit der heutigen Angelobung von Giorgia Meloni, der Chefin der rechtsnationalen Fratelli d’Italia, zur ersten Ministerpräsidentin Italiens die Wiederkehr des Faschismus ja unmittelbar bevor.
Nur dürfen wir es uns wirklich so leicht machen? Nein, meint Francesca Melandri. Die Schriftstellerin aus Rom warnt vor allzu einfachen historischer Analogien
Sie hat zwei wirklich bemerkenswerte Romane über die langen Schatten Mussolinis in Italien geschrieben. „Sangue giusto“ (deutscher Titel: „Alle, außer mir“) handelt von den Folgen der brutalen italienischen Eroberung und Kolonisierung Abessiniens und der Verdrängung dieses dunklen Kapitels in der Geschichte Italiens. „Eva dorme“ („Eva schläft“) ist der Versuch, das Trauma der gewaltsamen faschistischen Assimilationspolitik in Südtirol aus Sicht der deutschsprachigen Minderheit zu erzählen
Beide Werke ziehen ihre Eindringlichkeit zu gutem Teil daraus, wie sie die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpfen, ohne den erzieherischen Ton anzuschlagen, der zeithistorischen Romanen oft innewohnt.
Ich finde diesen nüchternen Zugang sympathisch. Der inflationäre Gebrauch des Wortes Faschismus für alles und jedes, was als Angriff auf die eigenen politischen Überzeugungen oder die eigene individuelle Freiheit wahrgenommen wird, stört mich schon lange. Ich halte ihn auch deshalb für problematisch, weil er die Verbrechen von Mussolinis Herrschaft banalisiert und uns oft genug davon abhält, die Dinge, die um uns herum geschehen, nicht gewissenhaft und mit dem gebotenen Abstand zu überprüfen.
Aber natürlich will ich durchaus beunruhigt wissen, was von einer Partei an der Regierung zu erwarten ist, die sich so unverhohlen auf den Duce beruft. So zu tun, als handle es sich bei Meloni und ihren Brüdern Italiens nur um eine weitere Variante des Rechtskonservativismus in Europa, halte ich für nicht minder heikel.
„Was jetzt also?“, werden Sie sich fragen. Dass Meloni das Land in einen autoritären Staat rückbaut, scheint mir unwahrscheinlich. Dazu sind Demokratie und Rechtsstaat im südlichen Nachbarland zu gefestigt. Entscheidend wird sein, wie sich Italien in Europa positioniert. Geht die neue Regierung auf Distanz und bildet Allianzen mit anderen souveränistischen Kräften in Frankreich, Ungarn, Polen und anderswo, oder setzt sie den alten integrativen Kurs fort?
Melandris Absage erreichte mich kurz nachdem ich mich in Triest von Claudio Magris verabschiedet hatte. Bei unserem Treffen im Caffè Tommaseo hatte der Schriftsteller mir unter anderem von einem Seminar erzählt, das er vor Jahren am elitären Bard College in den USA gehalten hatte. Als er seinen Studenten von Stalin erzählte, stellte sich heraus, das ein guter Teil noch nie etwas vom Sowjetführer gehört hatte. „Wie kann das sein?“, fragte mich Magris noch immer fassungslos.
So oft uns in Europa auch die Gespenster der Vergangenheit quälen, so sehr ziehe ich das Leben in einem historischen Kontinuum doch einer geschichtslosen Existenz vor. Der Gedanke einer Gesellschaft, die sich nicht mehr in der Zeit verorten kann, hat für mich etwas Erschreckendes. Geht es Ihnen auch so? Das fragt mit herzlichen Grüßen Ihr