Ich hab es nicht so mit Silvester. Eigentlich könnte schon Neujahr sein. Neujahr ist okay. Man begreift sich als Möglichkeitsform und reißt sich zusammen. Alle tun und klingen so, als würden sie sich zusammenreißen. Die Schispringer, die Philharmoniker, der Papst, der Bundespräsident, die Impfgegner und ein bissl man selbst. Man murmelt eine Idee von sich und ist feierlich entschlossen, ihr eine Chance zu geben. Die Wirklichkeit ist noch nicht auf. Sie braucht noch. Sie kämmt sich noch. Das ist das Schöne am Ersten-Ersten. Er hat was schwerelos Schwebendes. Alles scheint nach vorne offen. Silvester hat nichts Schwebendes, eher hat der Tag was Zwänglerisches. Schon die Frage, was machst zu Silvester, zwängelt. Man muss was machen und weiß nicht, warum. Zum Beispiel Bowle mit glitschigen Früchten und schlechtem Wein ansetzen. Man macht Dinge, die man während des Jahres bei Verstand nie machen würde, etwa: für übereinander gestapelte Schweinsrüssel eine Dreierreihe bilden, einen Abend lang rohe Fleischstücke einzeln aufspießen und sich die Farbe merken, alte Popkonzerte auf 3sat anschauen oder einen Speisesaal mit wildfremden Menschen für ein Silvestermenü teilen.
Warum 22 Uhr Sperrstunde eine Strafe sein soll, entzieht sich meinem Verständnis. Silvester ist versuchte schwere Nötigung, und alles, was die Nötigung begrenzt, ist ein Akt der Befreiung. Daheim unverkleidet in normalen Klamotten mit ein paar Lebensabschnittsleuten zusammensitzen, über den Sisi-Trash und den neuen Arbeitgeber des Ex-Kanzlers ablästern oder dem unnützen Jahr für das Erinnerungskörberl ein paar besondere Momente abtrotzen, das ja. Meine magischen Augenblicke waren, damit wir das auch besprochen haben, der hoffnungsfrohe Sprechgesang der Amanda Gorman bei Bidens Vereidigung und die 93 Sekunden in der Bar in Venedig, in denen das 2:1 von Arnautovic gegen Italien als Wirklichkeit durchging. Nie war Stille schöner. Gorman hat übrigens fabelhafte neue Gedichte herausgegeben, vorerst nur auf Englisch. Dort heißt es: „Who are we, if not/what we make of the dark“. Was wir aus düsteren Zeiten machen, sagt uns, wer wir sind.
Also auf.