Heute als Empfehlung drei kluge Bücher jenseits von links und rechts, gut und böse, also jenseits der Gepflogenheit, was man wie zu sagen und zu denken hat. Drei Bücher als Überbrückung bis zu Neujahr Mitte Mai, wenn die Theater, der Sport und die Gastronomie wieder kontrolliert öffnen. Schreiben wir heute. Rauchzeichen der Öffnungskommission. Die Freiheit kommt mit dem Flieder.
Das erste Buch stammt vom smarten Winnetou-Philosophen Richard David Precht, der so schnell schreiben muss wie er spricht und denkt. Er hat auf den Zugfahrten zu den Talkshows ein Buch über die Pandemie verfasst und einen modrigen Begriff entstaubt: die Pflicht. In den vegangenen Tagen zwischen den Halbzeiten gelesen, wo es die Deutschen aus der Champions League geschleudert hat und überall die Engländer übrig blieben. Das geht, das Buch ist ein Büchl, es hat nur knapp über hundert Seiten: ein feines Lob der Pflicht. Mag heute keiner mehr hören. Precht macht sich Gedanken darüber, was aus einem Staat wird, dessen Bürger sich zwar ihrer Grundrechte bewusst sind und ihrer Ansprüche an das Hier und Jetzt, aber nicht mehr ihrer Pflichten dem Staat und den anderen Mitbürgern gegenüber.
Auch nicht in der Krise, wenn die Bürger pflichtmüde werden. Precht meint die Pflicht, sich an die Gesetze und Regeln zu halten, damit nicht alles zerfällt und der Staat zu einem „entgrenzten Kindergeburtstag“ verkommt, wo jeder macht, was er will. Entbunden sei man von der Pflicht nur, wenn diese elementar mit der Humanität oder Menschenwürde kollidiere. Andere auf Geheiß des Staates töten müsse niemand. Aber es sei weit und breit keine Diktatur zu sehen, predigt Precht, auch wenn Querdenker sie auf der Straße herbeireden würden.
Gäbe es sie, die Diktatur, wären sie nicht auf der Straße. Precht beklagt eine zunehmende „Selbst-Entpflichtung“, befeuert durch eine Geiz-ist-Geil-Ökonomie und Baumarkt-Moral. Jeder sei darauf konditioniert, die billigsten Tarife und besten Preise zu bekommen, das sei ein Denkprogramm, das dazu führe, dass das Ich stets darauf achte, selbst gut wegzukommen, notfalls auf Kosten anderer, die dann eben das Pech haben, weniger gerissen und schlau zu sein. Demonstranten ohne Maske nennt Precht „a-sozial“. Man fühle sich nicht mehr an Recht und Ordnung gebunden, unterlaufe sie oder bastle sich selbst seinen eigenen Mix an Regeln, Sitten und Vorschriften, Baumarkt-Moral. Der Einzelne, so Precht, handle nicht mehr wie ein mit Rechten und Pflichteten ausgestatteter Staatsbürger, sondern wie ein auf den eigenen Vorteil bedachter „Kunde“ des Staates.
Die zweite und dritte Empfehlung in aller Kürze, weil es schon spät ist. Sahra Wagenknecht hat eine spektakuläre Abrechnung mit den „Lifestyle-Linken“ vorgelegt. Sie nennt sie „die Selbstgerechten“, der Titel des Buches ist Programm und Anklage, auch Selbstanklage. Die Autorin war Fraktionsvorsitzende der Linken. Wagenknecht wirft ihrer Gesinnungsgemeinschaft vor, die klassische Wählerklientel aus den Augen verloren und abgehoben auf ein kulturell privilegiertes, akademisches Großstadt-Publikum gesetzt zu haben. Wer für eine geregelte Zuwanderung eintrete, werde dort als Rassist stigmatisiert, im Wissen, dass eine große Mehrheit eine unkontrollierte Zuwanderung ablehne. Denk- und Sprachverbote, Cancel-culture und eine überzogen-nischige Identitätspolitik hätten die alte Stammwählerschaft nach rechts vertrieben. Die Geringverdiener nehme man als billige Lieferdienste oder Haushaltshilfen für die eigene Altbauwohnung in Berlin-Mitte wahr und werte sie kulturell auch noch ab, indem man ihre Art zu leben moralisch verächtlich mache. Es ist eine bemerkenswert zugeschliffene Axt, mit der sich Wagenknecht über Ihresgleichen hermacht. Ein ideologisches Abbruchwerk in eigener Sache. Steht auf unserer Story-Liste.
Das gilt auch für unseren Kolumnisten Konrad Paul Liessmann und sein neues Buch „Alle Lust will Ewigkeit“. Nietzsche ist sein Basislager, von dem der Philosoph aufbricht zu Expeditionen in die Gegenwart mit all ihren Brüchen und Sonderbarkeiten. Das Streben nach Behaglichkeit und Konvention im Denken und Fühlen ist es, was dem Autor dabei immer wieder in die Quere kommt und aufstößt. Jede Abweichung von der Norm werde als etwas Pathologisches, Pflegebedürftiges desavouiert. Die Schere im Kopf sorge dafür, dass man es sich auf der richtigen Seite der Geschichte bequem einrichten könne und „sich in seinem intellektuellen Wohlbefinden auch nicht weiter stören lassen muss“. Auch hier: eine starke Stimme gegen normativ verinnerlichte, falsche Gleichförmigkeit. Wer sich einlesen möchte: Das Kulturressort bringt in der heutigen Ausgabe auszugsweise einen exklusiven Vorabdruck.