Die zweitgrößte Demokratie der Welt hält uns weiter mit ihrem Wahlkrimi in Atem. „On razor´s edge“, betitelte treffend die New York Times das US-Präsidentenrennen, das auch nach Auszählung aller Stimmen als Tanz auf der Rasierklinge fortgesetzt wird. Hoffentlich nicht auf der Straße, aber jedenfalls vor Gerichten. Donald Trumps Ankündigung, die Briefwahlergebnisse in den umkämpften Bundesstaaten Michigan und Pennsylvenia bis zum Höchstgericht anzufechten, lässt in jedem Fall dramatische Wochen bis zum 20. Jänner erwarten – dem Tag, an dem nach Verfassung der neue US-Präsident angelobt werden muss.
Derzeit kommt der demokratische Kandidat den 270 Wahlmännerstimmen immer näher, aber statt der erwarteten "Blauen welle" bleibt es die Zitterpartie, die das Land auf des Messers Schneide spaltet. Das haben nicht alle Meinungsforscher verkannt. In einem Interview mit der Kleinen Zeitung hatte US-Botschafter Trevor Traina jüngst auf aktuelle Umfragen des Trafalgar-Instituts verwiesen, das 2016 ziemlich einsam den Trump-Sieg vorhergesagt hatte. Dem Wallstreet Journal erzählte Trafalgar-Chef Robert Cahaly vor wenigen Tagen, wie man Fragemethoden vertieft habe, um in graues Terrain vorzudringen: die peinliche Zurückhaltung von Wählern, ihre Sympathie für einen erratisch-autoritär polternden Kandidaten auch zuzugeben. Kommt uns in Österreich irgendwie bekannt vor.
Wer immer am 20. Jänner 2021 als neuer US-Präsident auf die Bibel mit dem Amtseid feierlich geloben wird, dass er das Amt „getreulich verwalten und die Verfassung der Vereinigten Staaten nach besten Kräften erhalten, schützen und verteidigen“ wolle, wird als wichtigste Aufgabe die gespaltene Nation kitten müssen. Derzeit seien sogar „in den Familien die Streitigkeiten zum Teil so groß, dass man nicht mehr miteinander spricht“, beschreibt Botschafter Martin Weiss im Skype-Interview mit Redakteurin Manuela Tschida Swoboda. Es werde keine leichte Aufgabe, die Gräben zuzuschütten.
Adolf Winkler