Guten Morgen!
Die Lokale und Bars in Wien, die für Wochen stillstehen sollten, wurden zum Zufluchtsort, an dem keine Abstandsregel mehr gegolten habe, sondern nur die Logik nackter, unverstellter Angst. Die Tochter im Fünften schrieb, ihr hätten Freundinnen aus der Innenstadt erzählt, dass sich Fremde an Pianos gesetzt und irgendwas zu spielen begonnen hätten, nur um die Ausharrenden zu besänftigen.
Im Konzerthaus trat der Percussionist Martin Grubinger mit Musikern auf, sie erfuhren vom Geschehen draußen und spielten auf Geheiß der Sicherheitsorgane weiter, gleichsam über die Wirklichkeit drüber.
Der Innenminister, dessen schroffe Tonlage mit der Wirklichkeit plötzlich auf beklemmende Weise übereinstimmte. Der Öffentlich Rechtliche Rundfunk, früher mitunter etwas behäbig in der Reaktion auf Großereignisse, war eine Nacht lang CNN und ging bravourös auf in der Rolle.
Über der Stadt seien Hubschrauber gekreist, schilderten Augenzeugen, Fernsehreporter berichteten wie von Kriegsposten, hinter ihnen das blau flackernde Licht, als umspanne es wie eine riesige, grelle Girlande die ganze Innenstadt. Der Aufruf im Fernsehen, Polizisten daheim mögen sich in den Dienst stellen, ein jeder würde gebraucht, die Kapazitäten seien am Limit. Bewaffnete Sondereinheiten seien überall zu sehen gewesen, die in militärischen Formationen Straßenzüge abschritten und einnahmen, die Waffen auf die Hauseingänge gerichtet.
Abgründige Bilder, die eine Exekution durch einen der Terroristen aus der Nähe zeigen, zirkulierten ungeschützt in den sozialen Netzwerken und landeten auf Portalen Gewissenloser. Der Graben, der Bauernmarkt, der Fleischmarkt, der Morzinplatz, man kennt die Namen als Flaneur der Weltstadt, der einzigen, die das Land hat. Sie habe in der Nacht aufgeschlossen zu Städten wie Nizza, Paris oder Lyon, eine traurige Normalisierung, schreibt Thomas Götz im Kommentar auf der ersten Doppelseite, die es bis kurz vor dem Andruck um elf gar nicht gegeben hatte.
Der erschossene Täter mit einem Sprengstoffgürtel als Attrappe: ein Sympathisant der Terrormiliz IS. Das erfährt man, als die Nacht Tag wird. Das Ende der Sissi-Kulisse. Wien hat sich eingeschrieben in die Kartografie großstädtischer Verwundbarkeit, aber auch großstädtischer Widerständigkeit. Auch davon wird die Stadt erzählen, wenn die Schulkinder wieder ins Freie dürfen. Die Stadt ist nicht nur zu groß für das kleine Land, sie ist auch zu groß,um sich von lächerlichen, kaputten Typen in Ku-Klux-Klan-Kapuzen kleinkriegen zu lassen.
Gestern in der Früh, als dieser Tag noch nicht verriet, was er alles bereithalten würde, stritten wir in der Redaktion feurig über die Frage, wer an der Schwelle zum Lockdown die hinfällig gewordene Veranstaltungsseite und die hinfällig gewordene Kinoseite in der Zeitung zugesprochen bekommen sollte. Und dann fielen die leeren Seiten den vielen, sprunghaft angestiegenen Parten und Todesanzeigen zu. Wir gingen leer aus.
Es war ein Tag, an dem die Zeitung mehr verdichtete Wirklichkeit aufbot, als uns recht war.
Bleiben Sie gelassen,
Hubert Patterer