Uns wurde das vorzeitige Aus der Koalition vor ziemlich genau drei Wochen als heiß ersehnter, willkommener Befreiungsschlag verkauft, um uns von der bleierne Schwere zu erlösen, die sich in den letzten Jahren und Monaten über das Land gelegt und alle Poren des Politischen verstopft hat. Und nun das. Erweist sich der gestrige Ministerrat als Gradmesser für die verbleibenden Wochen und Monate bis zur Wahl Mitte Oktober, müsste die jüngere Geschichte umgeschrieben, müssten die letzten Jahre und Monate als Glanzzeit großkoalitionären Gestaltungswillens rehabilitiert wird.
Nicht nur, dass es der Bundeskanzler und der Vizekanzler gestern vormittags nicht geschafft haben, gemeinsam vor die Presse zu treten, um allfällige Minikompromisse zu verkaufen – das kennen wir aus der Vergangenheit. Lieber trat man hintereinander vor die Medien, zuerst der Vizekanzler, dann der Kanzler. Der ÖVP-Obmann ward überhaupt nicht gesehen. Dem Vernehmen nach gelangte er über die Hintertreppe oder einen Geheimgang zum Ministerrat.
Die Entfremdung zwischen den bisherigen Koalitionspartnern ist so tief, dass man bereits zum Stellungskrieg übergangen ist – ehe im September beide Seiten wahlkampfgetrieben aus ihren Schützenlöchern kriechen und in die Offensive gehen. SPÖ und ÖVP beteuern mit listiger Unschuldsmiene, trotz vorgezogener Neuwahlen die noch offenen Themen „im Interesse oder im Sinne des des Bürgers abarbeiten“ zu wollen. Niemand will sich dem Vorwurf aussetzen, als Dauerbremser vorgeführt zu werden.
Nur - eigenartigerweise treiben beide ausgerechnet jene Themen voran, die ihnen wahlkampfbedingt nützen - die SPÖ den Beschäftigungsbonus oder das Schulautonomiepaket unter Einbindung der Grünen, die ÖVP das Sicherheitspaket oder das Schulautonomiepaket unter Einbindung der Freiheitlichen. Und der Kanzler drohte gestern neuerlich, sich allenfalls freie Mehrheiten im Parlament zu suchen. Sehen vertrauensbildende Maßnahmen so aus?
Nun muss man fairerweise einräumen, dass es die ÖVP war, die die Partnerschaft aufgekündigt hat – und die SPÖ und den Kanzler am falschen Fuß erwischt hat. Noch dazu unterzieht sich die Volkspartei gerade einer kafkaesken Metamorphose: die alte ÖVP sitzt geschäftsmäßig in der Regierung, während die neue Volkspartei hinter den Kulissen am Relaunch, am Neustart für den Herbst bastelt. Dem inhaltlichen Relaunch hat sich die SPÖ längst unterzogen – Anfang Jänner wurde Plan A aus dem Hut gezaubert, übrigens ohne formelle Beschlussfassung in SPÖ-Gremien, quasi „diktatorisch.“
Angesichts des wahlkampfgetriebenen Stellungskriegs, der den totalen Stillstand bedingt, sei ein Wunsch erlaubt: Wählt bitte nicht erst in viereinhalb Monaten, sondern bereits in viereinhalb Wochen, um uns vor den unerträglichen Spielchen zu bewahren. Dem Verzweiflungsschrei steht freilich die Verfassung entgegen. Leider.