Tief durchatmen, loslassen, lächeln. Die Franzosen, ja die Europäer haben Grund, es Emmanuel Macron nachzutun, dem neuen französischen Präsidenten. Der Wähler hat der Rechtspopulistin Marine Le Pen eine Absage erteilt. Er hat es nicht mit der Entschlossenheit getan, mit der er 2002 für den Konservativen Jacques Chirac und gegen Le Pens Vater Jean-Marie stimmte. Mehr als 80 Prozent der Franzosen votierten damals gegen rechts. Der Sozialliberale Macron hat es im Kräftemessen mit der Tochter Le Pen auf 65 Prozent gebracht. Die Widersacherin darf sich eines historischen Wahlergebnisses rühmen. Aber gleichwohl: Die Mehrheit des Volkes hat sich gegen diejenige aufgelehnt, die sich anmaßt, in seinem Namen zu sprechen, die Andersdenkende zu Volksfeinden erklärt.
Wie zuletzt die Niederlande hat sich Frankreich gegen populistische Abschottung entschieden. Ein überzeugter Europäer wird die Geschicke des Landes bestimmen, das als fünftgrößte Wirtschaftsnation der Erde, Atommacht und Mitglied im Weltsicherheitsrat international Gewicht auf die Waage bringt. Das lässt hoffen. Das tut gut. Es heißt allerdings noch lange nicht, dass die dahinvegetierende EU nun auflebt, nach innen bürgernäher, demokratischer, sozialer und nach außen schlagkräftiger würde. Aber Europa bekommt dank Macrons Wahl die Chance, sich in diese Richtung zu entwickeln. Und Frankreich?
Wenn der Hoffnungsträger nur halbwegs einlösen sollte, was er gelobt hat, würde alles gut werden. Umfassende Erneuerung hat Macron versprochen, den kollektiven Aufbruch der zerrissenen französischen Gesellschaft in die Moderne. Was für eine wunderbare Vision ist das für die vom Zickzackkurs des zögerlichen Vorgängers François Hollande entnervten Franzosen! Selbst die Anhänger Le Pens träumen vom Bruch mit der Vergangenheit.
Aber natürlich ist so ein kollektiver Aufbruch Illusion. Die gesellschaftlichen Risse in Frankreich sind zu tief, als dass sie in absehbarer Zeit zu kitten wären. Zumal es ja nicht Missverständnisse sind, die zur Entzweiung der Franzosen geführt haben, sondern krasse soziale Gegensätze, einander ausschließende Weltbilder.
Am Sonntag sind die Brüche erst wieder in aller Deutlichkeit zutage getreten. Mehr als ein Drittel der Wähler hat für Le Pen gestimmt. Ein Viertel hat sich ganz verweigert und gar nicht erst die Wahllokale aufgesucht. Seit 1969 war die Stimmenthaltung nicht mehr so hoch. Anders gesagt: Halb Frankreich hat die Hoffnung aufgegeben, zur von Macron gepriesenen Moderne aufschließen, von ihr profitieren zu können.
Und von denjenigen, die dem Sozialliberalen am Sonntag ihre Stimme gegeben haben, hat ein Gutteil weniger für ihn votiert als gegen Le Pen. Macron, der jüngste Präsident der Fünften Republik, ist wohl auch der schwächste. Den am Sonntagabend befreit durchatmenden Franzosen und Europäern dürfte bald wieder der Atem stocken.
Axel Veiel