Ohne ein zugewandtes, mitwirkendes Frankreich lässt sich das Projekt Europa nicht erneuern und hinüberretten. Der Scheitelpunkt, an dem sich das große, mangelhafte Nachkriegswerk befindet, wäre der Endpunkt.
Dieser Befund ist kein Ausdruck düsterer Angstlust, sondern eine nüchterne Tatsache.

Mit der Frage, wie es mit Frankreich weitergeht, ob es sich in sich verkrümmt oder europäisch kartografiert bleibt, wird zugleich die Frage verhandelt, wie und ob es mit Europa weitergeht. Daher geht diese Wahl uns alle an. Wer Pathos verträgt, darf sie schicksalhaft nennen. Ein Sieg des jungen sozialliberalen Emmanuel Macron brächte zwar noch nicht Europas Genesung, aber er wäre Voraussetzung dafür, sie überhaupt in Angriff zu nehmen. Ein Sieg der Nationalistin Marine Le Pen würde das wacklige Haus Europa zum Einsturz bringen. Ohne den Trägerbalken der Achse Deutschland– Frankreich ist es nicht sanierbar. Das Einigungswerk wäre zu einem Abbruchobjekt entstellt.

Zwar hat Le Pen ihre radikale Position zuletzt etwas abgemildert, aber die Volte entsprang weniger der Einsicht und Vernunft, sondern schlechten Umfragewerten. Man kennt den Reflex aus dem heimischen Präsidentschaftswahlkampf.

Auch sonst zeigen sich Parallelen, die auf die Umbrüche in der Parteienlandschaft verweisen und auf die Gärungsprozesse in der Gesellschaft. Das Finale findet auch in Frankreich ohne die beiden Traditionslager statt. Sie sind Opfer ihrer Erneuerungsunfähigkeit. Die Ränder erhalten Zulauf, in Österreich eher die rechten, in Frankreich an beiden Peripherien.

Neue Bruchlinien entstehen, vor allem zwischen dem städtischen und dem ländlichen Bewusstsein. Draußen, bei den Abgehängten, die unter dem Abfluss von Arbeit, Jugend und Infrastruktur leiden, blüht und wuchert der weite Resonanzraum für die Vereinfacher und Prediger des Nationalen, die den Zornigen im Tragekorb der Propaganda und Verklärung das alte Land zurückbringen. Dort sind alle Konflikte der Moderne, der Migration und Globalisierung gelöst und überwunden. Mit diesen Trugbildern gehen die Waidmänner auf Beute.

Die Konflikte sind real und kein Gespinst, als das man sie abtat. In Frankreich bündeln sie sich wie unter einem Brennglas, und mit ihnen all die Versäumnisse: die Parallelwelten in den Vorstädten; die Agonie auf dem Land; die ungestaltete Zuwanderung; der normative Druck der Medien, die im Dienste des vermeintlich Guten Pädagogik statt Journalismus betrieben, wie der Gelehrte Rüdiger Safranski jüngst befand; die kulturelle Selbstvergessenheit, die ein Geschichtswerk ohne Jeanne d’Arc erscheinen ließ (zu katholisch, zu national); und über allem die kalte Toleranz, die selbstgefällig alles gewähren ließ, zugewandt nur sich selbst und nicht jenen, die kamen. Alles ist hier, im schönen, zerrissenen Frankreich, in schmerzhafter, exemplarischer Deutlichkeit sichtbar. Auch deshalb geht uns an, was heute dort geschieht.