Auch wenn beide Seiten die Details noch geheim halten, die Genfer Syrien-Vereinbarung zwischen Moskau und Washington ist der bisher komplexeste Versuch, den Horror des über fünfjährigen syrischen Bürgerkriegs zu beenden. Drei strategische Dimensionen zeichnen sich in dem Abkommen ab. Zum einen soll der blutige Krieg zwischen dem Assad-Regime und den Rebellen jetzt fixiert und stillgelegt werden, nachdem Aleppo definitiv umzingelt und das Regime dank russischer Luftunterstützung, abertausender Hisbollahkämpfer und irakisch-iranischer Milizen momentan auch an anderen Fronten die Oberhand hat.
Zum zweiten koordinieren die Vereinigten Staaten und Russland nun erstmals ihren Luftkrieg gegen den „Islamischen Staat“ und Al-Nusra-Front, die beide Führungen inzwischen als die größte Bedrohung ihrer eigenen nationalen Sicherheit ansehen. Entsprechend drängt Washington die moderateren Rebellen, ihre Militärbündnisse mit den Jihadisten aufzukündigen, um nicht selbst in das Visier der neuen Luftallianz zu geraten.
Zum dritten bekommt die Türkei nach ihrem Einmarsch in Syrien vor vier Wochen de facto freie Hand im Vorgehen gegen syrisch-kurdische Autonomiewünsche. Dafür ist Ankara offenbar bereit, Aleppos Rebellen ihrem Schicksal zu überlassen, dem Regime in Damaskus die Macht über die gesamte nordsyrische Handelsmetropole auszuhändigen und sich mit eigenen Truppen am geplanten Sturm auf die IS Hauptstadt Raqqa zu beteiligen.
Bashar al-Assad dagegen kann sich bequem zurücklehnen. Der Massenmörder, der sein Land in den Ruin getrieben und mehr als 300.000 Menschen auf dem Gewissen hat, braucht sich unter dem neuen Genfer Szenario über eine Machtteilung oder gar einen Rücktritt nicht mehr ernsthaft den Kopf zu zerbrechen, zumal sich Moskau und Washington künftig sogar gemeinsam seine gefährlichsten Gegner vorknöpfen. Rechtzeitig zum Ende der Obama-Administration wäre die moderate syrische Opposition reduziert auf ein gutes Dutzend umzingelte Enklaven und militärisch entkräftete Brigaden.
Und so sind diesmal – anders als im Februar – vor allem das Regime, seine Hisbollah-Verbündeten und die vom Iran gesteuerten Milizen daran interessiert, dass Syriens neue Feuerpause tatsächlich hält. Denn die Uhr tickt. Im Januar wechselt der Chef im Weißen Haus. Und dann ist es ziemlich sicher vorbei mit dem zurückhaltendem Syrienkurs à la Barack Obama.
Martin Gehlen