Bis heute können in Großbritannien 200.000 Tory-Mitglieder darüber befinden, wer ihre Partei künftig führen – und somit neuer Premierminister oder neue Premierministerin wird. Am Montag weiß man, wer es geworden ist – die Margaret-Thatcher-Blaupause Liz Truss oder der Managertyp Rishi Sunak: Sie oder er wird ein Vereinigtes Königreich in Multikrise aufrichten und an allen erdenklichen Fronten für Aufschwung kämpfen müssen.
Die Hinterlassenschaft von Noch-"PM" Boris Johnson ist, abgesehen von seinen persönlichen, hinreichend belegten Verfehlungen, mehr Konkursmasse als politisches Erbe. Das Vereinigte Königreich taumelte vom Brexit wie der Rest der Welt in eine mehrjährige Pandemie. Nun setzen – natürlich auch vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs – explodierende Energiepreise und Lebenshaltungskosten dem Volk massiv zu. Die Denkfabrik Resolution Foundation zeichnet Horrorszenarien, wonach durch sinkende Reallöhne weiteren Millionen Briten Armut droht. Fazit: So wie bislang kann es in Brexitannia nicht weitergehen.
Johnson versprach viel – vorlegen konnte er davon in seiner Amtszeit wenig bis nichts: Gold, dort am Ende von neuen internationalen Freihandelsabkommen. Ein Wiedererstarken der britischen Nation, fernab von Brüssel und quasi aus sich selbst heraus. Reformen, mit denen man der EU zeigt, wie es besser geht. Weniger Migrationsströme über den Ärmelkanal. Wie das alles funktionieren soll: Die Antwort darauf blieb er, immer noch einen launigen Spruch im Ärmel, schuldig.
Dazu das hochexplosive Nordirland-Protokoll, an dem von London gerüttelt wird – offenbar auch von Truss. Eine besonders gravierende Baustelle ist zudem das nationale Gesundheitssystem, der National Health Service: "Uns steht ein schrecklicher Winter bevor", warnt Matthew Taylor, der Geschäftsführer der NHS Confederation, die das Gesundheitssystem vertritt. "Der neue Premierminister oder die neue Premierministerin wird einen NHS im schlimmsten Zustand seit Menschengedenken erben."
Außenpolitisch markierte Johnson zuletzt gegenüber dem Kriegsaggressor Russland den starken Mann – gesamtpolitisches konnte er indes nie liefern. Schrilles Unvermögen regierte. Die Konservativen büßten massiv ein und zittern vor den nächsten Parlamentswahlen, die bereits vor 2025 stattfinden könnten. Trotzdem denkt "Bojo" offenbar selbst an sein Comeback – und will, Originalzitat, "einen (auf) Berlusconi machen". Parallel dazu melden etliche Tories Zweifel an, wonach man ihm zu früh den Laufpass gegeben hätte – die schönfärbende Wirkung der Zeit.
Parallel dazu melden etliche Tories Zweifel an, wonach man ihm zu früh den Laufpass gegeben hätte – die schönfärbende Wirkung der Zeit.
Genau davon, Zeit nämlich, wird der/die neue "PM" nicht viel haben, um realitätsnahes, ehrliches, umsichtiges und zukunftsweisendes Krisenmanagement einzuleiten. Hunger, Armut, Menschen, die nicht mehr heizen können.