Die Avenue Léopold-Robert ist eine schnurgerade Straße, die in vier Spuren die Welthauptstadt der Uhrenindustrie durchquert. Sie zieht sich rund zwei Kilometer durch La Chaux-de-Fonds, gesäumt von Hunderten Ahornen, die vom Stadtgartenamt so geschnitten werden, dass die obersten Spitzen exakt auf einer Meereshöhe von 1000 Metern enden. Denn La Chaux-de-Fonds liegt zwar tief im Tal zwischen den aufragenden Gebirgsketten des Schweizerischen Hochjuras, aber rund tausend Meter über dem Meer, und diese einst reiche, heute immer noch wohlhabende Stadt hält sehr auf sich, sodass sie sich den kommunalen Spleen mit der Oberkante der Ahorne gerne leistet.
Ich hatte diese Stadt schon lange besuchen wollen, weil mich die alten europäischen Industriestädte und unter ihnen besonders jene Orte faszinieren, in deren städtebaulicher Struktur ein soziales Ideal oder eine politische Obsession anschaulich werden. Ich fand sie in Mähren, wo der Schuhpatron Bat’a sich die Musterstadt Zlín errichten ließ, oder in Istrien, wo zu Zeiten des italienischen Faschismus die Bergarbeiterstadt Raša errichtet wurde, ein großes Schachbrett, auf dem jede Figur, vom Arbeiter zum Vorarbeiter, vom Ingenieur zum Direktor, den ihr zugewiesenen Platz haben sollte. Die Stadt, in die ich nun geriet, unterschied sich aber von anderen Planstädten, die ich kannte. Hier ist man nicht in einem Museum unterwegs, das vom Scheitern paternalistischer Allmachtfantasien erzählt, wie sie die Brüder Bat’a hegten, oder von der nationalen Mobilisierung der Arbeiterschaft, wie sie Mussolini vorschwebte, der Raša mehrfach besuchte und die Siedlung immer zu wenig mächtig und prächtig fand. Nein, La Chaux-de-Fonds ist kein sozialgeschichtliches Stadtmuseum, sondern eine lebendige Kleinstadt, die man mit ihrer urbanen Anlage für viel größer hält, als sie ist. Tatsächlich zählt sie auch heute nur jene 40.000 Einwohner, die sie schon um 1900 hatte, als die Hälfte der Weltproduktion an Uhren hier hergestellt wurde.
Als ich mich auf den ersten Erkundungsgang machen wollte, begann es zu schütten, sodass ich in den 14. Stock des Hochhauses namens Tour Espacité am einen Ende der Avenue Léopold-Robert hinauffuhr und von dem fast leeren Café aus über die Stadt schaute. Sie war streng geometrisch aufgebaut, die breiten Straßen, die das Tal entlangzogen, wurden in rechtem Winkel von schmäleren Straßen gekreuzt, die zu beiden Seiten der Avenue die Hügel hinaufführten. Dies war das Werk eines kundigen Stadtplaners aus dem frühen 19. Jahrhundert, der den Brand des alten Dorfkerns dazu nutzte, den neuen Ort so aufzubauen, dass seine Struktur unmittelbare soziale und ökonomische Folgen zeitigte. Denn die Avenue und ihre Parallelstraßen sind alle von Nordost nach Südwest orientiert, sodass in den lang gestreckten Hallen die Feinmechaniker, die an den Werkbänken die großen, kleinen und winzigen Uhren montierten, stets das beste Tageslicht für ihre Arbeit vorfanden.
Dieses System von Parallelstraßen symbolisierte zugleich die soziale Hierarchie der Arbeiterstadt. An den Straßen im Tal standen die noch heute imponierenden Wohnblöcke der Arbeiter, hügelan darüber die geräumigeren Wohnhäuser der Angestellten und ganz oben die Villen der Eigentümer, von denen einige Le Corbusier entwarf, der in dieser Stadt aufwuchs, sie aber weniger geprägt hat, als dass er von ihr geprägt wurde.
Die Arbeiter von La Chaux-de-Fonds, hoch spezialisierte Könner, waren gegenüber ihren Klassengenossen in anderen Industriezweigen privilegiert. Das hat ihnen aber das proletarische Bewusstsein keineswegs ausgetrieben, auch heute, da Firmen wie Tissot, Omega, Breitling, Corum hier ihre Firmenzentralen haben, erreicht die kommunistisch orientierte „Partei der Arbeit“ zuverlässig zwanzig Prozent. Viele Arbeiter kommen aus Portugal, sodass die Portugiesen vor den Deutschschweizern die zweitgrößte Nationalität in der französischen Stadt im Kanton Neuenburg bilden.
Am frühen Abend geriet ich in ein Bistro, in dem die Leute auf dem Weg von der Arbeit nach Hause noch ein paar Gläser Rotwein oder Absinth tranken und heftig auf Französisch und Portugiesisch debattierten. Sie taten es gewiss der Solidarität wegen, denn das Lokal stand am „Platz der Internationalen Brigaden“.
Karl-Markus Gauß ist Schriftsteller und lebt in Salzburg
Karl-Markus Gauß