Während die Welt blutet, wähnen wir uns im gesegneteren Teil Europas noch weitgehend im Besitz der Option, unseren behaglichen Lebensstil durch Nichtinangriffnahme von Strukturproblemen in die Zukunft zu retten. Das zeigt sich beispielhaft am jüngst vom Rechnungshof durchleuchteten Pensionssystem: Seine Mängel sind seit Jahrzehnten bekannt. Sie drücken aber zu wenig aufs Gemüt, um uns Kraft für eine Kernsanierung zu verleihen.
Das kann man ausdehnen auf unser Sozialsystem und die gesamte demokratische Friedensordnung: Sowohl der materielle als auch der institutionelle Wohlstand, den wir aus Gewohnheit beanspruchen, hat sich in den Stürmen der letzten Jahre als bestechend haltbar erwiesen. Das hat aber nicht etwa dazu geführt, dass wir ihn als Schatz hüten und aktiv vor Schaden bewahren. Viel eher sind wir bequem geworden und wiegen uns in trügerischer Sicherheit. Die Ahnung, dass die Fundamente des Wohllebens ziemlich brüchig geworden sind, wischen wir zur Seite.
Stattdessen verbreitet sich das Gefühl, dass wir zwar in einer Ära der ständigen Krisen leben, dass es aber zugleich irgend eine höhere Instanz gibt, die uns für alle Unbill entschädigt und uns vor der Inanspruchnahme eigener Leistung schützt. Bedingungsloses Vollkasko für die umfänglich mit Rechten und Ansprüchen ausgestatteten Bürger ist sozusagen die erste Pflicht des Staates: Diese Illusion wird von der herrschenden Politik ebenso fahrlässig wie tatkräftig befeuert. Die Regierung bewerfe jedes Problem mit Geld, sagte kürzlich die Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger. Sie hätte ergänzen müssen: mit Geld, das wir nicht haben.
Aber es geht um mehr als nur um die Finanzierbarkeit. Die kulturell zu lesende Frage, wie sich jeder Einzelne von uns zur Gesellschaft stellt und wie er die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft definiert, ist aufgerufen. Die Versorgungsillusion wird ja auch oft technologisch befeuert: Der Philosoph Konrad Paul Liessmann sagte etwa, die Automatisierung könnte ein Leben ermöglichen, in dem die Arbeit nur noch einen geringen Stellenwert hat.
Richtig daran ist allenfalls, dass wir Erwerbsarbeit zu eng definieren. Begreift man sie weiter – etwa im Sinn: sich anstrengen, um für andere etwas beizutragen –, dann wird klar, dass wir Arbeit nicht vermeiden sollen, sondern dass wir sie brauchen. Fürs eigene Glück und besonders zum Wohlergehen des Ganzen.
Die Gesellschaft ist ein Energiesystem: Sie funktioniert, wenn möglichst alle nicht nur etwas abzapfen, sondern auch etwas zuführen. Wir sollten uns daher als Gemeinschaft der Tatkräftigen begreifen, die gerne zupacken und den Lohn eigener Anstrengung genießen. Das müssen wir in Familien, Schulen, Universitäten, Kulturstätten und Medien wieder viel stärker zum Ausdruck bringen und vorleben.