In seiner Zeit als EU-Korrespondent hat Ihr Morgenpostler in Brüssel, Straßburg und anderswo in Europa so mancher europäischen Weihestunde beigewohnt. Der hohe Ton, der bei diesen Gelegenheiten gemeinhin von den Spitzen der EU angeschlagen wird, kam ihm meist ziemlich gestelzt und gekünstelt vor. Und es wäre schon eine Überraschung, verhielte sich das anders, wenn Ursula von der Leyen heute vor dem Europaparlament ihre Rede zur Lage der Union hält.
Ja, vieles spricht dafür, dass es sich um die übliche Ansprache handeln wird, durchtränkt von Pathos, Superlativen und hochfliegenden Plänen, deren konkrete Umsetzung sich dann häufig sehr rasch im Unterholz des politisch Möglichen und Machbaren verheddert.
Für die Kommissionspräsidentin ist es die vierte Rede an die Union und vielleicht auch die letzte. Denn ob das Mandat der Deutschen an der Spitze der Brüsseler Behörde verlängert wird, wird stark vom Ausgang der Europawahlen im kommenden Frühjahr mitbestimmt sein, und der ist angesichts der aktuellen Häufung bedrohlicher Krisen alles andere als gewiss.
Das Vorbild, an dem Von der Leyen mit ihrer Rede Maß nimmt, ist die State of the Union Adress, die jährliche Ansprache des US-Präsidenten an Amerika, die nicht nur ein Akt nationaler Selbstvergewisserung, sondern stets auch eine Botschaft hegemonialer Stärke an die Welt ist.
Und hier liegt auch der Unterschied zur EU. Die USA sind ein Imperium. Die Europäer dagegen tun nur so, als ob sie eins wären. Sie hegen imperiale Gelüste, ohne sich dementsprechend zu gebärden. Denn zu einem Imperium gehört, dass es – wenn es darauf ankommt – dazu bereit ist, seine Interessen mit Härte durchsetzen – ökonomisch, politisch und kulturell. Doch genau dazu sah sich Europa als selbst deklarierte Softpower aus vielerlei Gründen bisher außerstande.
Das kann man gutheißen oder nicht. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist jedenfalls unübersehbar.
Doch Putins Überfall auf die Ukraine ist für die Europäer und ihre Selbstwahrnehmung eine Zäsur. Er hat sie der Illusion beraubt, der Friede ließe sich mit freundlichen Worten, kulturellem Dialog und wirtschaftlichem Austausch sichern.
Das Erwachen ist brutal, es bringt aber auch neue Bewegung in die EU. Militärisch geht ein Ruck durch die Union, und auch die Erweiterungsmüdigkeit scheint überwunden.
Plötzlich ist ein gemeinsamer Wille zu spüren, den Kontinent nicht kampflos den Wölfen zu überlassen. Ob sich daraus ein qualitativ neues europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt, wird sich noch zeigen. Vieles ist noch im Nebel, und die Herausforderungen, vor denen Europa steht, sind gewaltig.
Andreas Lieb, mein geschätzter Nachnachfolger in Brüssel, hat die zentralen Baustellen vor der heutigen Rede der Kommissionspräsidentin zusammengefasst. Er wird die Ansprache live in der Straßburg mitverfolgen und sie erst für unsere digitalen Plattformen und in einem weiteren Schritt dann auch für die Printausgabe der Kleinen Zeitung analytisch einordnen.
Bleiben Sie uns bitte gewogen!
Es grüßt Sie herzlich, Ihr