Zarte Nebelschwaden hängen über dem See, als ich die Uferstraße entlanglaufe und nach einer kurzen Steigung vor Tor Nummer 82 Halt mache. Da steht es also noch – das Häuschen, das die schönsten Sommertage meiner Kindheit gesehen hat.

Jedes Jahr im August empfing es uns unverändert, mit einem verzogenen Tischtennistisch in der Hauseinfahrt, seinem dezent beanspruchten Mobiliar, ausnahmslos unscharfen Messern und dieser Dachschräge, unter der man sich während eines Hagelgewitters so kuschelig fein verkriechen konnte. Der Balkon, ausgelegt mit den hässlichsten Kunstgrasmatten, die der Baumarkt einst zu bieten hatte, gab den Blick trotzig frei – auf das Postkartenidyll, in dem vor einer Wallfahrtskirche bunte Segel in den Wellen schaukelten. Der Lockruf des Sees war unüberhörbar, er stachelte selbst Vater und Großvater zur Höchstleistung an: Nach vier Stunden und vier Bierchen erschien das Schlauchboot endlich aufgepumpt, mein Abenteuer als Piratenbraut konnte beginnen.

Ich stach in See, ruderte mal Richtung Schlangeninsel, mal zum verwunschenen Schloss, tauchte nach Schätzen und barg voller Stolz Coladosen oder rostige Nägel. Mit den Jahren und der Elektromotorisierung des Kahns schwand mein Entdeckergeist – ich gab nur noch die Leichtmatrosin, die den Eltern fallweise beim Entern half. Schließlich bestand die Mutter darauf, in schicken Pantoffeln mit Keilabsatz das Boot zu besteigen, auch wenn der Herr Gemahl in seiner Fassungslosigkeit häufig den Halt verlor und rücklings wieder von Bord ging. Als sie dann aber lächelnd von ihrer Tour zurück getuckert kamen und Mama verkündete, auch Peter Alexander vor seiner Villa gesehen zu haben, begriff ich, dass richtiges Schuhwerk einfach unverzichtbar war.

Das Kopfkino rattert munter weiter, Erinnerungen schwimmen vorbei: Wie uns die Cousine und Cousins besuchten und wir stundenlang zu beweisen versuchten, dass man auch zu viert am Surfbrett stehen kann. Wie wir im Seichten Abfangen spielten und mir als Andenken die üppige Narbe am Oberarm blieb. Und wie der Vater abends den Grill entfachte, die Röstaromen verwegen mit dem Föhn verteilte, sämtliche Würstel auf nur für ihn genießbare Kohlschwärze brannte und am Ende alle dankbar waren, dass Mutter zum Nachtisch noch ein Blech Millirahmstrudel mit Vanillesauce gebunkert hatte.

Ich sehe meinen Großvater zufrieden in unserer Mitte, Karten oder Schach spielend, Kreuzworträtsel lösend und irgendwie immer den Schatten suchend. Jenen vom Baum neben dem Steg liebte er besonders, von dort aus konnte er die Enkelin im Wasser dirigieren. Ihre Atemzüge waren dem Kraulmeister nicht ruhig genug, die Finger meist falsch gespreizt, der Beinschlag eigentlich immer zu wild. Nur mit den Köpflern konnte er leben, einmal jubelte er fast wie tags zuvor bei den Tricks der Turmspringer im Olympiabecken von Barcelona. 

Es zählte zu den Höhepunkten des Urlaubs, abends nach Sternschnuppen Ausschau zu halten oder auf das eine Feuerwerk zu warten, das garantiert irgendwann kam. Dann explodierte es in allen Farben über unseren Köpfen, wie ein buntes Kaleidoskop der gemeinsamen Erlebnisse.    

Ungünstigerweise mischte sich mit den Teenagerjahren auch Liebeskummer in die Zeit am See. Dessen Kitsch war verblasst, mich konnte maximal eine Fahrt mit dem Bananenboot aus der Lethargie befreien. Als das Fräulein Tochter auch noch Fernweh nach dem Meer befiel und die Drohung „Nie mehr Wörthersee“ im Raum stand, gaben die Eltern schweren Herzens den Schlüssel ab und ihre Stammgästebuchung unwiederbringlich auf.

Zaghaft gleiten jetzt erste Sonnenstrahlen über die Hausmauer, die Wellen klatschen sanft ans Ufer und wie auf Kommando schimmert das Wasser türkis. Uns gleichsam ermutigend flüstere ich „Immer wieder Wörthersee“ und laufe zurück ins vollbelegte Großhotel, das zumindest noch ein wenig Raum für die Gedanken an früher lässt.