Frisch und tatkräftig, volksnah und kämpferisch, integrierend und gerecht, fürsorgend – aber, natürlich, Amerika zuerst! US-Präsident Joe Biden gab sich in seiner Ansprache zur Lage der Nation als der Präsident, den die Amerikaner gerne hätten. Dass er 80 Jahre alt ist, ließ er sich nicht anmerken; kein Stottern, (fast) kein Versprecher, schlagfertig; nicht übertrieben aggressiv, versöhnend, aber fest in der Sache.
Biden zählte seine Erfolge auf: der wirtschaftliche Boom, zwölf Millionen neue Jobs auch für Industriearbeiter, mehr Verbraucherschutz, das Quasi-Ende von Corona. Dass dies den politischen Gegner nicht beeindruckt, versteht sich von selbst. Erstaunlich ist aber, dass er ausgebuht wurde, als er den Republikanern vorwarf, Einschnitte bei der Pension und der Krankenversicherung zu planen. Das ist deren erklärte Politik seit Newt Gingrich, republikanischer Fraktionsführer in der Clinton-Ära.
Biden ist dafür bekannt, Freunde in beiden Parteien zu haben und mit Republikanern verhandeln zu können. Deshalb hatte bereits Barack Obama ihn als Vizepräsident. Diese Stärke versucht er nun, auszuspielen. Aber wollen die Wähler überhaupt einen parteiübergreifenden, versöhnlichen Präsidenten? Interessiert das nicht eher nur die Insider in Washington?
Trump kam nicht gerade als Konsenskandidat ans Ruder. Denn viele Wähler glaubten, ihre Sorgen würden von der Washingtoner Elite missachtet. Den Fehler will Biden nicht wiederholen. Er gibt sich als Kumpel der Arbeiter; die umstrittene „Identitätspolitik“ handelte er in wenigen Sätzen ab. Die letzte Wahl gewann Biden als der Anti-Trump. Aber ob ein solcher 2024 überhaupt noch gebraucht wird, ist fraglich. Sogar Trumps frühere Pressesprecherin Sarah Huckabee Sanders erklärte, bei den Republikanern sollten Jüngere antreten.
Eva Schweitzer (New York)