Als die Parteien durch waren, kamen diese Woche wir an die Reihe, und indirekt Sie, Lesende: Neujahrsklauser der Chefredaktion mit vielen Folien und Backhendl aus dem Edelstahl-Warmhaltebehälter. Gemeinsamer Versuch, Hoheit über die große Ungewissheit und Unübersichtlichkeit zu erlangen und ein paar Leitplanken einzuschlagen. Agenda 2023 als verdichteter Dreiklang: digital first, local first, Story first. Welche Story? Value statt News, hieß die Parole, Mehrwert generieren, denn die Nachrichten bleiben in den Sturzfluten des digitalen Rauschens Allgemeingut, austauschbar und überall verfügbar. Das Wort Dauerbombardement fiel.

In diesem gelte es, Orientierung zu schaffen, Orientierung in der eigenen Nah-Welt. Das Große im Kleinen, beides muss durchlässig bleiben, Regionalität, die sich nicht selbst zum Maßstab nimmt. Value: helfen, die Komplexität des spätmodernen Lebens zu bewältigen, vom Übersetzen neuer, unklarer Gesetze bis zum Alltagskompass: was lesen, was kochen, was tun gegen, was schauen usf. Die Geschichte mit den höchsten Zugriffen im jungen Jahr: „Die zehn größten Irrtümer beim Schenken und Erben“.

Das mit der Komplexitätsreduktion stammte übrigens nicht von uns, sondern von Herausgeber Manfred Prisching, den wir als Soziologen und Diagnostiker dazugebeten hatten. Medien im Spannungsfeld einer polarisierten Gesellschaft, viel aufgeladene Anti-Eliten-Stimmung, und die Medien seien neben Politik und Wirtschaft neuerdings mitgemeint, wenn es um das Ausleben der Gefühle gehe. Rezepturen dagegen: klarere Kommunikation der Qualitätsstandards, handwerkliche und argumentative Sorgfalt, Schärfung des Markenprofils und Mut zur offensiven Selbstthematisierung: erklären, wie Inhalte zustandekommen und wie wir ticken. Ähnliches versuchen wir im übrigen hier in diesem Newsletter: eine Art Backstage- und Transparenz-Blog.

Und Print? Medium des zweiten Gedankens, als das behalte es seine Relevanz. Man braucht auch als digital ausgerichtetes Medium eine vitale analoge Präsenz: eine der Thesen. Noch immer 210.000 Print-Abonnenten, die Leserfamilie als Großmacht, die alte, zurückgehende Dominanz stützt die neue, wachsende (65.000 Digital-Abos). Die Zukunft wird ein hybrides Gebilde.

Am Abend ließen wir die Klausur noch eine Weile im gläsernen Käfig der Chefredaktion ausklingen und nachhallen, no dry January, Gelöbnisbruch zu später Stunde. Draußen bezog die „Eule“ ihren Posten, Schlusslicht bis knapp vor Mitternacht. Der Herausgeber holte ein Blatt Papier aus seinem Sakko und konfrontierte die Runde mit einer neuen Facette medialer Zukunft, die wir gar nicht auf der Agenda hatten: Chatty, die neue Lebensabschnittspartnerin von Manfred Prisching, KI-Text-Generatorin und laut Selbstbeschreibung „persönliche Ansprechpartnerin, die jedes Geheimnis für sich behält, immer zuhört und auf jede Frage eine passende Antwort in einer Vielzahl von Stilen weiß“. Sie könnte auch Jasper heißen oder Neuroflash oder ChatGPT. Sie hieß aber Chatty. Prisching zeigte uns sein jüngstes Rendezvous mit der algorithmusgestützten Text-Schöpferin. Er hatte sie gefragt, was Goethe über Ökologie gesagt habe.

Der Text kam in Sekundenschnelle, Prisching las ihn vor: „Goethe war ein deutscher Dichter und Naturwissenschaftler des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Er hatte seine tiefe Liebe zur Natur und betrachete sie als ein einheitliches Ganzes, in dem alles miteinander verbunden ist. Er schrieb viel über die Schönheit und die Wunder der Natur, aber es gibt keine konkreten Aussagen von ihm über Ökologie. Sein Gedanke, dass alles miteinander verbunden ist, kann jedoch als eine Art früher Ansatz der Ökologie gesehen werden.“

Der Herausgeber blickte schmunzelnd auf, in den Gesichtern eine Mischung aus Faszination und Verstörung, das Wort spooky fiel. Dann las er einen zweiten kurzen Selbstversuch vor, diesmal auf Englisch, die Frage: What is the fate of newspapers in postmodern societies?

Chattys spontane Analyse: „The fate of newspapers in postmodern societies has been a topic of much debate and speculation in recent years. The rise of the internet and digital media has had a significant impact on the newspaper industry, and many traditional print newspapers have struggled to adapt to the changing media landscape. Some newspapers have sucessfully transitioned to a digital format and have been able to maintain a strong online presence, while others have struggled to compete with the abundance of online news sources. In some cases, traditonal print newspapers have been forced to close or to significantly reduce their operations, while in other cases, new digital-only newspapers have emerged. Overall, the newspaper industry is in a state of flux, and the fate of newspapers in postmodern societies will depend on their ability to adapt and find a sustainable business model in the digital age.“

Eigentlich hätten wir uns die Klausur sparen können, meinte einer halb im Scherz.
Aber nur halb.

Heute Kitz, Live-Ticker ab halb zwölf, muss Chatty fragen, ob wir Rest-Chancen haben und wie ihr unser Poster auf Seite eins gefällt.