Wir müssen uns an der eigenen Nase nehmen. 4200 Mal haben wir im abgelaufenen Jahr in Artikeln, Glossen, Kommentaren krisenhafte Entwicklungen beim Namen genannt. Das ist deutlich weniger oft als im Jahr 2020, als Corona die Welt in Schockstarre versetzt hat. Damals fand der Begriff Krise mehr als 8000 Mal Eingang in die Kleine Zeitung - mit durchschnittlich 20 Erwähnungen pro Ausgabe. Im abgelaufenen Jahre strahlten wir, zeigt der simple Blick in die Datenbank, bescheidene 200 Mal Zuversicht aus, vor allem um den Jahreswechsel herum. Mit frommen Wünschen ist allerdings kein Staat zu machen.

Putins Überfall auf die Ukraine hat Europa aus dem Tiefschlaf gerissen. Im Frühjahr haben alle noch darüber gerätselt, ob uns im Winter das Gas ausgeht, wir Weihnachten und Silvester in Dunkelheit und Kälte verbringen müssen. Nichts dergleichen ist geschehen - nicht, weil uns der Klimawandel, also das milde Wetter gerettet hat, oder sich die Szenarien als kolossale Irrtümer entpuppt haben, sondern weil der Staat, die Regierung, die Energiebetreiber gegengesteuert haben.

Vor einem Jahr waren fast alle Neujahrswünsche mit der Hoffnung verbunden, dass Corona endlich überwunden wird. Glaubt man den Aussagen von Christian Drosten, ist die Pandemie (nicht das Virus) Geschichte - nicht, weil sich Covid-19 in Luft ausgelöst hat, sondern weil die Wissenschaft mit Unterstützung der Politik, auch der EU einen wirkungsvollen Impfstoff entwickelt hat. Dass die Entspannung (nicht Entwarnung) keineswegs gottgegeben ist, zeigt der Blick nach China.

Die zwei Beispiele sollen lediglich deutlich machen, dass wir mitunter Krise können und jede Apokalypse ein Ablaufdatum besitzt, wenn man kühlen Kopf bewahrt, die richtigen Schritte setzt, mutige Entscheidungen trifft, das Glück auf seiner Seite weiß. Das soll nicht die tiefe Verunsicherung, die angesichts der Teuerung bis weit in den Mittelstand hineinreicht, bagatellisieren. Wer hätte je gedacht, dass ein Schreiben des Energiebetreibers im Brieffach mehr Angstschweiß auslöst als ein blauer Brief, ein Kuvert des Finanzamtes, das Schreiben von Gerichten, Anonymverfügungen, Mahnschreiben?

Das sei ein Plädoyer wider den Tunnelblick, wider innenpolitische Beobachter, die atemlos von einer Eil-Meldung zur nächsten hecheln, im Hamsterrad der Empörung gefangen sind, von Ereignis zu Ereignis taumeln, kein Sensorium für das große Ganze besitzen. Der französische Historiker Fernand Braudel führte den Begriff der „longue durée“, der langen Dauer, in die Geschichtswissenschaft ein. Vielleicht bedarf es eines langen Atems, um der Nabelschau zu entkommen. Die Griechenlandkrise ist übrigens nur noch Historie.

Einen schönen Dienstag, der, so hoffe ich, auch Momente der Gelassenheit bietet, 
wünscht