Sind Sie sich bewusst, dass die Regierung gestern mit der Abschaffung der kalten Progression einen historischen Meilenstein beschlossen hat? Oder dass mit den Entlastungspaketen und Einmalzahlungen ein Mindestsicherungsbezieher in diesem Jahr ca. 1700 Euro zusätzlich ausbezahlt bekommt, bei Eltern mit einem Kind werden es rund 2600 Euro sein.
Möglicherweise gehören Sie aber zu jenen, die angesichts der Kosten-Rallye in allen Bereichen die Entlastungen als Selbstverständlichkeit ansehen und sich fragen, wie jene mit geringem Einkommen ihre Heizkosten in diesem Winter bezahlen werden. Oder eine Gemeinde, die bislang Energiekosten in Höhe von 150.000 hatte, künftig über eine Million stemmen muss. Oder Herr Müller, dessen Rechnung sich von 250 auf 840 Euro erhöht.
Ob die alte Preis-Normalität bei einer Aufhebung der Sanktionen zurückkehren würde, wie das Rechte wie Linke in die Welt posaunen? Ein wenig anders formulierte es Ex-Kanzler Kern. Wir würden „trotz Sanktionen Gas und Öl aus Russland wollen und dann beschweren wir uns, dass Putin Energie zur Waffe macht. Was für eine Naivität“, meinte er in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“.
Naivität? Wer könnte an der Erkenntnis zweifeln, die Ursula von der Leyen in ihrer gestrigen Rede hervorhob. Die Sanktionen gegen Russland waren und sind eine moralische und strategische Notwendigkeit. Gleichzeitig dürfte aber auch allen ohne jede Naivität klar sein, dass die Erkenntnis dieser Notwendigkeit auf immer stärkere Abwehr jener stößt, die statt 250 Euro plötzlich 840 Euro Energiekosten zu berappen haben. Wie schrieben 16 Innungsmeister dem deutschen Kanzler? Sie seien nicht bereit, für die Ukraine ihren schwer erarbeiteten Lebensstandard aufzugeben. Einzelreaktionen unsolidarischer Egomanen? In Österreich ruft kommenden Samstag die Gewerkschaft zu Großdemonstrationen mit dem Schlachtruf „Preise runter“ auf. Wie vielen da die gestern von Ursula von der Leyen beschworene „unerschütterliche Solidarität mit der Ukraine“ ein Anliegen ist?
Die eigenen Anliegen melden sich zurück. Und nicht wenige verbreiten die Botschaft, dass ein Ende der Sanktionen ein Ende der Preisexplosionen bedeuten würde. Wenn es so einfach wäre.
Was tun gegen die Vereinfacher? Der Außenminister fordert „Nervenstärke“ und meint, die Kassandrarufer würden auch dieses Mal wie bei Covid Unrecht behalten.