Wohl endgültig vorbei sind die Zeiten, in denen der türkische Boulevard höhnisch über eine österreichische Außenministerin titelte: „190 cm blonder Eigensinn.“ Nicht, weil der Boulevard zur Vernunft gekommen ist, sondern weil zwischen Wien und Ankara Tauwetter herrscht.
2005 hatte Ursula Plassnik im Alleingang die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara über Wochen blockiert. Das Veto war zwar bald Geschichte, allerdings wurde die Formel in das Mandat eingeflochten, wonach die Verhandlungen „ergebnisoffen“ zu führen sind, also die Gespräche nicht automatisch in eine Vollmitgliedschaft münden dürfen. Die türkische Retourkutsche folgte Jahre später: Ankara verhinderte im Alleingang Plassniks Ernennung zur Generalsekretärin der OSZE.
Nun sind Wien und Ankara wieder auf Kuschelkurs. Nach dem gescheiterten Putschversuch, der Ausrufung des Ausnahmezustands und den Säuberungswellen gegen Erdogan-Kritiker brach 2016/7 eine neue Eiszeit aus. Österreichische Archäologen, die in Ephesus gruben, wurden des Landes verwiesen, auch legte die Türkei ein Veto gegen Österreichs Einbettung in die Nato-Partnerschaft ein - mit folgenschweren Konsequenzen für den Einsatz österreichischer Soldaten im Kosovo, Bosnien oder Afghanistan. Die Missionen liefen und laufen unter Nato-Kommando, die Österreicher waren von sensiblen Informationen abgeschnitten.
Die Normalisierung ging von der Türkei aus. Vor mehr als einem Jahr wurde Österreichs Botschafter Johannes Wimmer von Erdogan zu einem persönlichen Gespräch in den Präsidentenpalast eingeladen. Wimmer war nicht der einzige Botschafter, dem diese ungewöhnliche Ehre zuteil wurde. Erdogan betreibt die Aussöhnung mit allen Ländern, mit denen die Türkei im Clinch lag: Frankreich, die Niederlande, mit anderen Vorzeichen auch Ägypten, Israel, Saudi-Arabien, Vereinige Arabische Emirate, Armenien.
In den Monaten darauf flogen parlamentarische Abordnungen nach Wien, Außenminister Alexander Schallenberg traf seinen türkischen Amtskollegen in Rom, Erdogan griff am 1. März zum Telefon und rief Van der Bellen an. Die Archäologen durften wieder nach Ephesus, das Veto bei der Nato wurde aufgehoben.
Bisheriger Höhepunkt des bilateralen Tauwetters: Am Montag traf Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka den türkischen Präsidenten zu einem einstündigen Vieraugengespräch im ziemlich verregneten Ankara. Morgen sehen sich Erdogan und Bundeskanzler Karl Nehammer am Rande des Nato-Gipfels in Madrid. Vor zwei Wochen wurde Wiens Bürgermeister Michael Ludwig diese Ehre in Istanbul zuteil - Ludwig traf keinen Fake. Sobotka wurde übrigens von der Chefin der Freundschaftsgruppe, der Wiener SPÖ-Abgeordneten Nurten Yilmaz, in die Türkei begleitet.
Er habe größtes Interesse, ein „neues Kapitel“ in den Beziehungen zu Österreich aufzuschlagen, versicherte Erdogan in der Unterredung mit Sobotka, und hoffe, Van der Bellen bald in Ankara empfangen zu dürfen - man kann davon ausgehen, dass Van der Bellen das Angebot annimmt, allerdings nicht vor der Bundespräsidentenwahl.
Beim türkischen Präsidenten spielen allerdings auch Wahltermine eine Rolle. „Die Diaspora ist eine wichtige Wählergruppe“, unterstreicht Sobotka. Rund 270.000 Menschen mit türkischen Wurzeln leben in Österreich. Bei den letzten Wahlen hatten 72 Prozent der wahlberechtigten Austrotürken für Erdogans AKP gestimmt. „Die Türken, die in der Diaspora leben, sind nicht gerade populär“, erzählt ein türkischer Politologe, der wenig vom Amtsinhaber hält. „Sie sind wohlhabend, erklären uns die Welt, wählen aber Erdogan.“ 2023 wird in der Türkei gewählt. „Gewinnt er noch einmal, wandern die jungen Menschen aus.“ Die Türkei stöhnt unter einer galoppierenden Inflation, die inoffiziell bereits bei 150 Prozent liegt. Österreich kommt deshalb auch wirtschaftlich ins Spiel - als viertgrößter Investor in der Türkei.
In der Unterredung mit Sobotka sprach Erdogan überraschend das Islamgesetz an, das die Auslandsfinanzierung von Moscheen bzw. die Anstellung ausländischer Imame verbietet. Erdogan rüttle allerdings nicht am Gesetz, versichert Sobotka. „Er hat das Gesetz akzeptiert.“ Ob er vom türkischen Präsidenten die Zusicherung erhalten habe, dass dieser den türkischen Wahlkampf nicht nach Österreich tragen werde? „Man darf sich nicht der Illusionen hingeben, dass es nicht zu einer Aufhetzung kommen kann.“
Geopolitisch spielt die Türkei derzeit ohnehin in der Champions League, Ankara versteht sich im Ukraine-Krieg als geschickter Vermittler zwischen den Fronten. Warum Ankara keine Sanktionen gegen Putin verhängt habe? „Wir sind doch nicht selbstmörderisch unterwegs“, erklärt ein Journalist, der mit Erdogan nichts am Hut hat. „Wir sind zu mehr als 60 Prozent vom russischen Gas abhängig.“ Als Österreicher darf man darüber schmunzeln. Sind es blanker Opportunismus, Pragmatismus oder einfach Weitsicht, die das türkische Handeln bestimmen?
Noch eine Parallele zu Österreich tut sich auf. 3,8 Millionen Syrer leben in der Türkei, sie genießen nahezu dieselben Vorrechte, die Österreich den Ukrainer eingeräumt haben: Kostenlose medizinische Betreuung, kostenloser Uni-Zugang, keine Asylverfahren, weitgehender Zugang zum Arbeitsmarkt. In der Türkei droht allerdings die Stimmung zu kippen. Nicht auszudenken, wenn Erdogan im Wahlkampf Stimmung gegen die Syrer macht und sie aus dem Land zu werfen versucht. Dann bleiben ihnen nur zwei Routen: zurück in die mehr als unsichere Heimat oder weiter nach Europa.
Einen schönen Start in den Tag wünscht