Vor dem Anpfiff schien das Chaos perfekt: Hunderte verwaiste Sitzplätze im Stade de France in Paris, Staus und Hupkonzerte auf allen Zufahrten. Gestrandete Liverpool-Fans an den Sicherheitskontrollen, die entnervt mit ansehen mussten, wie immer mehr Rowdies die Absperrungen durchbrachen und sich gewaltsam Zutritt zu ihrem Traumfinale verschafften. Die UEFA überspielte die katastrophale Organisation des gestrigen Champions League-Endspiels nur halbherzig, mit verschobenen Beginnzeiten und einer Eröffnungsshow, die beim American Football bestimmt besser angekommen wäre.
Für David Alaba war am Ende trotzdem alles gut, bekam er nach Schlusspfiff doch sogar einen Klappstuhl zu fassen, um wie beim spektakulären Achtelfinale auch den Titelgewinn mit seinem neuen Lieblingsaccessoire zu zelebrieren. Zum dritten Mal Sieger in der höchsten Klasse des Vereinsfußballs, Österreichs Jahrhunderttalent schrieb wieder einmal Zeitgeschichte. Überboten nur von den fünffachen Champions League-Gewinnern aus den eigenen Reihen: dem oft (diesmal auch vom ZDF) unterschätzten Toni Kroos, der scheidenden Legende Marcelo, einem Weltfußballer namens Luca Modric, dem hemmungslosen Torjäger Karim Benzema und den Kollegen Isco, Casemiro, Daniel Carvajal und Nacho Fernandez.
Doch selbst diese Heldenriege stand im Schatten des größten Spielers. Mit Glanzparaden und atemberaubenden Reflexen parierte der Belgier Courtois die zwingenden Torchancen der beherzt anstürmenden Klopp-Elf. Als „man of the match“ wird er mit seinen Königlichen und Rekord-Trainer Carlo Ancelotti die Nacht zum Tag gemacht haben, ebenso wie zehntausende Anhänger in Paris und beim Public Viewing im Bernabéu-Stadion von Madrid.
Aber nicht nur in den beiden Metropolen erklangen gestern die Jubelschreie – auch im Süden Frankreichs steppte der Bär. Das Filmfestival von Cannes erstrahlte zum 75-jährigen Jubiläum in altem Glanz. Stars und Sternchen gaben sich ein Stelldichein, an der Croisette funkelten der Luxus und das leichte Leben. Wie in einer Endlosschleife defilierten Schauspielerinnen und Supermodels in Prachtroben über rote Teppiche, schlürften Befrackte am Meeresstrand Austern mit Champagner und landeten Hubschrauber auf oder neben ihren Millionenyachten. Am Ende wurde auch noch die Goldene Palme verliehen, pikanterweise an eine Satire über elendsreiche, hochfadisierte Influencer.
Solcherart Publikum wird sich heute auch im mondänen Monaco tummeln, zum traditionellen Formel 1-Grand Prix des Fürstentums. Vielleicht werden manche beim Anblick der im Kreis kurvenden Boliden sogar kurz innehalten und überlegen, ob Spektakel dieser Größenordnung nicht gerade gänzlich absurd oder abzulehnen sind. Tausend Kilometer weiter tobt ein Abnützungskrieg, dessen erschütternde Bilder zwar auch die Cote d’Azur erreichen, der Stimmung dort aber keinerlei Abbruch tun. In der prall gefüllten Parallelwelt regiert jetzt wieder die Party, Krieg und Corona sind beruhigend weit weg.
Das Interesse für das ukrainische Drama erlahmt, die Großereignisse in Fußball, Film oder Formel 1 sind uns wieder deutlich näher gerückt. Erste Experten warnen, dass der EU nur noch wenige Monate bleiben, um eine Idee oder Zukunftsvision für den osteuropäischen Raum zu entwickeln und der Ukraine, Moldawien und Co eine Perspektive in der Staatengemeinschaft zu skizzieren. Denn die Solidarität mit den leidgeprüften Ukrainern droht zu versiegen, je länger der Krieg aufs Geldbörserl drückt. Schließlich will man sich das Feiern am Ende auch noch leisten können.
Einen erfüllten Sonntag wünscht