Heute muss ich Ihnen in der Morgenpost ein Geständnis machen. Es gibt Gesprächsgegenstände, zu denen ich keine Meinung habe. Hätte die Queen schon vor Jahren zugunsten von Prinz Charles auf den Thron verzichten sollen? Gibt es irgendwo da draußen in den unendlichen Weiten des Weltraums außerirdisches Leben? Und ist, vorausgesetzt man entscheidet sich dafür, jetzt das Sternchen die beste Art zu gendern oder der Doppelpunkt?

Ich weiß, das sind Fragen, um die im Netz erbitterte Glaubenskriege toben. Aber mir fällt dazu einfach nichts Substanzielles ein, das ich meinen Mitmenschen mitteilen könnte.

Das hat mich lange Zeit belastet. Ich empfand es als journalistischen Makel. Bis ich eines Tages mit meinem Freund Wolfgang, dem Fotografen, für eine Buchreportage über den Ersten Weltkrieg unterwegs war. Ich bilde mir ein, es war auf der Überfahrt vom kleinasiatischen Festland zur kleinen Insel Gökçeada, auf der eine der letzten griechischen Gemeinden der Türkei mit ihrem Metropoliten lebt. Es regnete in Strömen, langsam bahnte sich die Fähre in der hereinbrechenden Nacht ihren Weg durch die aufgewühlte See. Wir tranken Schwarztee in Pappbechern und starrten auf das dunkle Meer, als Wolfgang, der heute als erfolgreicher Werbefotograf in LA lebt, von seinen entbehrungsreichen Anfängen in New York zu erzählen begann. Monatelang musste er als Assistent eines berühmten Fotografen Stative und Scheinwerfer schleppen und die Sets für die Shootings aufbauen. Als er eines Tages einen Satz mit den Worten: „Ich meine …“ eröffnete, unterbrach ihn sein Chef und sagte: „Wolfgang, Meinungen sind wie Nasen, jeder hat eine.“

Jetzt muss ich Ihnen noch ein zweites Geständnis machen: In Wahrheit nannte der Mann einen ganz anderen Körperteil. Viel später bin ich dann draufgekommen, dass es sich überhaupt um ein berühmtes Zitat aus dem Kultstreifen „Dirty Harry“ mit Clint Eastwood handelt. Aber das tut nichts zur Sache.

Fürs Erste könnte man glauben, dass der Lehrer seinen Schüler mit dem Hinweis auf die Inflation an Meinungen einfach nur billig abkanzeln wollte. Dass er ihm zeigen wollte, wer hier der Meister und wer der Novize ist. Tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall. Was der berühmte Fotograf erst Wolfgang und Wolfgang dann mir mitteilen wollte, ist, dass man Meinungen nicht leichtfertig äußern soll. Das tun ohnehin viel zu viele. Eine Meinung ist etwas Kostbares. Man muss sie sich hart erarbeiten, durch Erfahrung, Expertise und ein ständiges dialektisches Abwägen, was dafür und was dagegenspricht. Ob das immer geschieht, ja, ob es immer möglich ist, bezweifle ich. Aber, wenn man unsicher ist, sollte man es vorziehen, lieber zu schweigen. Denn nichts ist peinlicher, als eine Meinung zu haben, aber keine Ahnung.

Keinen Grund mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten, hat mein Kollege Michael Jungwirth. Sein heutiger Leitartikel über Österreichs ausgehöhlte Neutralität ist die Frucht einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Thematik, erst als außenpolitischer Redakteur in den letzten Jahren des Kalten Krieges vor dem Fall der Berliner Mauer, dann als langjähriger Europakorrespondent in Brüssel, der Österreichs EU-Beitritt miterlebte, und schließlich als Chef des innenpolitischen Ressorts und Leiter der Wiener Redaktion der Kleinen Zeitung.