Im Netz macht dieser Tage ein Witz die Runde und der geht so: Warum ist Wladimir Putins Tisch so lang? Weil der Tisch mit jeder Lüge, wie Pinocchios Nase, weiter in die Länge wächst. Heute wird ein ordentliches Stück dazukommen. Am Roten Platz in Moskau wird, wie jedes Jahr, mit einer Militärparade der "Tag des Sieges" der Sowjetunion über Hitler-Deutschland 1945 begangen. Mit großer Sorge warten viele, was Putin in seiner Rede ankündigen wird. Eine Ausweitung des Kriegs? Oder "nur" einen "Sieg" in der Ost-Ukraine – die "Befreiung" der Stadt Mariupol, die Russland dem Erdboden gleichgemacht hat? Auch hier, zwischen all den Massengräbern, soll heute eine Militärparade zur Feier des "Sieges" stattfinden, womöglich mit Gastauftritt jenes Mannes, der das Gemetzel auslöste und befahl.
Unter enormen Opfern hatte die Sowjetunion Hitler besiegt. Opfer, die vom russischen, aber auch von anderen Völkern erbracht wurden – vor allem auch von Ukrainern. Am heutigen Tag wird Putin seine Nachbarn, die von einem jüdischen Präsidenten angeführt werden, erneut als Nazis diffamieren. Die Staatspropaganda wird, wieder einmal, behaupten, die Ukraine müsse zerstört werden; Ukrainer, die sich wehren, öffentlich gehängt werden. Schon jetzt verschwinden in den russisch besetzten Gebieten Bürgermeister auf Nimmerwiedersehen; Zivilisten werden exekutiert, Frauen und Kinder vergewaltigt. Ist es das, was Putin heute "feiern" will?
An der Grundsituation in diesem Krieg hat sich wenig verändert: Wenn Putin zu schießen aufhört und seine Truppen zurückzieht, ist der Krieg zu Ende. Wenn die Ukrainer von sich aus aufhören, zu kämpfen, hört ihr Land auf zu existieren.
Putin wird sich heute feiern lassen, und wenn das dazu beiträgt, dass er ablässt von diesem Krieg, wär’s gut. Vermutlich wird er auch die derzeit besetzten Gebiete zu Teilen Russlands erklären. Doch wie im Märchen ist dieser Zar, trotz des inszenierten Jubels, nackt. Die Verluste der Armee sind hoch. Militärexperten gehen davon aus, dass die jetzige Donbass-Offensive ohne Generalmobilmachung die letzte groß angelegte Offensive der Russen sein wird – zumindest für einige Zeit. Verkündet Putin heute die Generalmobilmachung, riskiert er, dass sichtbar wird, dass der Krieg nicht nach Plan läuft und an Unterstützung verliert. Und Massen an Bewaffneten, die unzufrieden sind, bergen das Risiko des Aufstands.
Krieg macht das Volk nicht satt. Vom Gefühl, ein Eroberer zu sein, kann man sich nichts kaufen. Die Ukrainer zeigen Tag für Tag, dass sie wissen, was sie wollen. Sobald der Krieg zu Ende ist, werden sie mit der gleichen Entschlossenheit ihr Land aufbauen und weiterbringen.
Russland mag im Moment trotz Sanktionen um die Runden kommen. Doch schon jetzt und längerfristig hinterlässt das Technologie-Embargo Spuren in der Industrie, Luftfahrt, bei den Eisenbahnen. Der Aderlass an Nachwuchskräften, die das Land verlassen, ist enorm. Putin führt Russland in die Rückständigkeit. Höflinge und Volk sollten dem ins Auge sehen.