Der 89-jährige Senior hat sich für heute ein altes leeres Rexglas mit dem Friedenslicht darin gewünscht. Er wird es kriegen. Er will es auf die meterhohe Schneewechte stellen, die den Grabstein der Mutter fast bis zur Oberkante verdeckt. Er bekommt auch seine Selchwürstel mit gedünstetem Sauerkraut und viel Wacholder. Beides erinnert ihn an die Nachkriegsjahre im südlichsten Tal, als am Weihnachtsabend, nach der Mette, die Fastenzeit endete, in der Regel mit heißem Malzkaffee, den es nur am Heiligen Abend und zu Ostern gegeben habe. Die Selcher vom Bergbauern: Fünf Minuten kräftig kochen, dann fünf Minuten ziehen lassen, seine fernmündliche Regieanweisung vorab. Die veganen Enkelkinder entziehen sich ihr und haben eine Einkaufsliste für fleischloses Fondue erstellt. Im großen, leeren Haus, das unter dem Dirigat der Mutter eine überbuchte Frühstückspension war, ziehen Diversität und Komplexität ein. Eine Enkelin schaltet sich aus Boston zu, sie macht in Harvard ein Biologie-Praktikum und sequenziert fürs Menschheitswohl an Ami-Mäusen herum oder so. Im Vorjahr musste sie in Wien bleiben, weil der Test positiv war, eine Fehlanzeige, die sich erst nach Stefani offenbarte. Wir haben über die I-Pads versucht, Weihnachtslieder zu singen, aber die Stimme aus Wien kam stets einen Takt zu spät im Tal an, worauf das Unterfangen wegen musikalischer Wertlosigkeit nach Strophe eins abgebrochen wurde. Digitalisierung kann viel, aber nicht alles.

Weihnachten dämpft. Die Impfgegner sind zuletzt etwas menschenfreundlicher und versöhnlicher im Ton geworden. Auch der Leser, der verhieß, es werde Blut über uns kommen, das Blut all jener, die „Sie und Ihre Redaktion auf dem Gewissen“ hätten. Aber selbst er, der Zürnende, rang sich am Ende ein paradoxes „Gott schütze Sie“ ab, wofür wir dankten. Den diskreten Rat des Verfassungsschutzes, die Redaktion besser durch den Hintereingang zu verlassen, haben wir dennoch beherzigt. Die Zeitung heute verrät von all dem nichts, wir haben versucht, sie coronafrei zu gestalten, Wirklichkeitsflucht just for one day. Das hehre Vorhaben glückte nur in Ansätzen. In den Interviews und Reportagen brach die Pandemie dann doch immer wieder thematisch durch, wenngleich als Ermutigung. Das Weihnachtsfest mit seinen starken Symbolen sei eine Einladung, sich dem Schrecken und der Resignation zu widersetzen, sagt die Philosophin Isabella Guanzini im Interview mit Stefan Winkler, der auch den Leitartikel zum Tag beisteuert („Trotzdem Weihnachten“). Am Abend kocht der Romanist Lasagne, auf Geheiß der Kinder. Der Senior im südlichen Tal würde mit einem Donnergrollen Einspruch erheben, dass kein Schnee mehr auf den Ästen bliebe. Dann noch lieber fleischloses Fondue mit der Fridays-for-future-Fraktion aus Wien.

Ein frohes Fest wünscht