Vielleicht schreibe ich Romane, um so in Kontakt mit meinem Hamburger Lektor zu bleiben, denn immer wieder füttert er mich mit Merkwürdigkeiten, oft im sprachlichen, manchmal auch historischen Sinn. Zuletzt rief er mich an und schwärmte von einem Begriff, den er aufgeschnappt hatte im Zuge einer Recherche. „Einemsen, was für ein herrliches Wort“, schwärmte er. „Einemsen? Noch nie gehört“, antwortete ich. „Was soll das sein? Nennt man das so, wenn man einem Wort ein ‚M‘ voranstellt? Also den ‚Acker‘ durchs ‚M‘ zum ‚Macker‘ macht?“ „Hä? Nein“, sagte der Lektor. „Emsen ist die veraltete Bezeichnung für Ameise und als ‚Einemsen‘ wird eine Verhaltensweise von Vogelarten bezeichnet, bei der das Gefieder mit lebenden Insekten, vornehmlich mit verschiedenen Ameisenarten, aber auch mit Tausendfüßern berührt wird.“
„Vögel berühren ihre Federn mit Ameisen?“
„Ja. Die Ameisensäure ist gefiederpflegend. Parasiten werden mit der ätzenden Flüssigkeit wirkungsvoll bekämpft.“
Ich hoffe nicht, dass Herbert Kickl vom Einemsen erfährt, sonst gibt es wieder eine Pressekonferenz, auf der er gegen Omikron zu Ameisen rät, der Doktor der abgebrochenen Philosophie. Vielleicht sollte man ihn auch einmal mit Tausendfüßern berühren. Sanft und liebevoll, auf dass er zurückkehrt zu einer Art von Normalität.
„Tolles Wort, einemsen“, sagte ich. „Bei mir ums Eck gibt es ein Militariageschäft, das ‚Gelegenheitsschwemme‘ heißt.“
„Auch gut“, sagte der Lektor am anderen Ende der Leitung.
„Das Wort gibt es nicht einmal auf Wikipedia. Es ist einzigartig“, sagte ich.
„In Süddeutschland gibt es eine Fleischhauerei, die von coolen, jungen Metzgern übernommen worden ist. Sie heißt jetzt ‚Wurst- und Fleisch Boutique‘“, sagte er und ich musste lachen.
„Was für ein bescheuerter Name“, sagte ich.
„Schicke Extrawurst? Und Frankfurter als Accessoire? Obwohl, es gibt ja Kleidung aus Fleisch. Aber eher aus Protest, von Vegetariern. Und eher nicht als Alltagskleidung.
„Man könnte sich auch komplett einemsen, ein dichter Ameisenmantel.“
„Aus Protest?“
„Nein, aus Lust.
Apropos Lust. In Hannover gab es einen kleinen Laden, in dem es ausschließlich Pornohefte zu kaufen gab. Es wurde von einer älteren Dame geführt und hieß ‚Sexstübchen‘. Der gemütlichste Name für ein Erotikgeschäft, den ich mir vorstellen kann.“ Das Sexstübchen gibt es nicht mehr. Die Zeiten sind härter geworden. Wir emsen uns ein, gegen Dummheit und Viren. Metzgereien werden zu Boutiquen und gelegentlich werden wir überschwemmt von Kriegsgerät. Von Soldatenmützen und Matrosendolchen. Wie gut, dass da in Hamburg einer sitzt, dem das alles auffällt. Ich werde ihm weitere Romane schreiben, schon bald, in der Hoffnung, dass ich weiter versorgt werde mit Geschichten aus der großen, weiten Welt.
Denn es ist so wie im Dialog zwischen Tiger und Bär. Als der kleine Tiger fragt: „O Bär, ist das Leben nicht unheimlich schön, sag!“ „Ja“, sagte der kleine Bär, „ganz unheimlich und schön.“
Dirk Stermann