Es war vor langer Zeit, da sang ich eines Abends im Advent meinem ältesten Sohn, er war damals knapp zwei Jahre alt, aus dem klassischen Liedgut den Evergreen „Oh Tannenbaum“ vor. Das hätte ich nicht tun sollen. Jeden Abend nämlich, wenn er endlich im Bett lag, hielt er das Buch mit den bekanntesten Weihnachtsliedern in seinen kleinen Händen, zeigte auf den Tannenbaum und rief mit seiner glockenhellen Stimme: „Bitte singen!“ Bald konnte ich alle Strophen auswendig. Als Dominik einmal – wie mir schien – ziemlich müde in unserem Bett lag, wollte ich ihn überrumpeln und stimmte „Leise rieselt der Schnee“ an. Doch sein diktatorisches „Sing Baum!“ beendete rasch meinen halbherzigen Versuch.
Irgendwie hatte ich mich daran gewöhnt. Unangenehm war mir nur, ehrlich gesagt, als ich mit ihm wenige Tage vor dem Heiligen Abend Christbäume schauen ging, er vor jedem stehen blieb und knapp sagte: „Sing Baum!“ Und wenn ich nicht wollte, weil andere Menschen in der Nähe waren, brüllte er: „Sing Baum! Sing Baum!“ Also beugte ich mich zu ihm hinunter und intonierte mit gedämpfter Stimme: „Oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter. Du grünst nicht nur zur Sommerszeit, nein, auch im Winter, wenn es schneit.“
An diesem Tag besang ich gewiss ein gutes Dutzend Tannenbäume – unter immer stärker werdender Anteilnahme mir gänzlich unbekannter Passanten, die meinen Darbietungen mit einem gewissen Befremden, aber nicht ohne Interesse begegneten.
Mit dem Abräumen des Christbaumes verschwand auch das Buch mit den Weihnachtsliedern. Der Frühling kam, und die Wiesen wurden wieder grün. Da spazierte ich mit Dominik in den Park. Plötzlich blieb er vor einem besonders prächtigen Nadelbaum stehen und sagte: „Sing Baum!“ Vorsichtig spähte ich um mich: kein Mensch weit und breit. Mein Sohn brüllte mit gewohnter Lautstärke, ich blieb stumm. Vielleicht war es kindisch von mir, aber ich wollte einfach nicht „Oh Tannenbaum“ singen, in meinem karierten Kurzarmhemd knapp vor dem Osterfest.
Im Vertrauen gesagt: Ich will dieses Lied nie wieder singen. Nie wieder.
Gottfried Hofmann-Wellenhof