Wenn man einen fremden Hausstand auflösen muss, lernt man noch einmal neu, wie viele unbekannte Winkel, Ecken und Nischen eine bekannte Wohnung hat, und wie viele das Leben, das in ihr zu Hause war. Es ist die intime Lehre von Abschied, Erkennen und Hausstaub, eine Schule von Einbaukästen, Schwerlastsäcken und Geheimnissen, und eine Aufgabe, bei der es hilfreich sein kann, wenn die Arme so stark sind wie die Nerven, die man währenddessen braucht. Man stößt auf alle Ereignisse, die ein Leben takten: Mit der lamettabesetzten Krippe und dem gut gehüteten Geschirr gehen einem plötzlich sechzig Weihnachten durch die Hände, an den handbemalten Eiern in der hintersten Schublade sieht man unzählige Osterfeste vorüberziehen, unter den Deckeln der Kisten mit alten Liebesbriefen, den Zettelchen von Geburts- und Todesanzeigen zeigt sich mit einem Schlag all das, was wichtig war und geblieben ist.
Diese Nähe ist anrührend, wie könnte sie es nicht sein, sie wühlt sich einem tief ins Herz. Und so gut man die Besitzer auch kannte, durch das Aufgehobene, Behaltene, Angesammelte, diese persönliche Kuratierarbeit im Museum der Sachen, begegnet man ihnen noch einmal, sieht manches in anderem Licht, und bekommt unversehens ein vollständigeres Bild von diesem fremden Menschsein. Die Lücken, Inkongruenzen, und Gleichzeitigkeiten, die einem bewusst werden, muss man aushalten, darum kommt man wie so oft nicht herum.
Und naturgemäß bleiben auch Überraschungen nicht aus, denn im Bergbau des großen Räumens und Sortierens, fördert man aus den Bergen der Dinge auch Gegenstände zu Tage, die mehr Fragen als Antworten aufwerfen. So stand ich in diesem Jahr schon ein wenig ratlos vor einem Plastiksack mit Pistolen, fand eine ansehnliche Sammlung von Tierzähnen, und entdeckte in der Dokumentenschublade ein fein säuberlich verpacktes Gebiss, das mysteriöser Weise herrenlos zu niemandem aus der Familie passen wollte. Aber keine Sorge, was auf den ersten Blick wie die Zutaten zu einem großen Verbrechen klingt, lässt sich in den Einzelheiten gut erklären, und aus berufsbedingter Neugier habe ich vorerst zumindest alle dentalen Relikte behalten und in einem Glas im Bücherregal aufbewahrt – wer weiß, wozu man sie noch gebrauchen kann.
Im Zuge der Wohnungsauflösung wurden auch die Tapeten entfernt, die in dicken Schichten an allen Wänden klebten, und unter jeder abgezogenen kam ein neues Design, ein anderes Leben hervor, und so war so mancher Baustellenhandgriff wie eine kleine Zeitreise, die einen schließlich zurück bis in die wilden 70er führte. Auch eine Wohnung kann eine Matrjoschka sein, aus der man unterschiedliche Versionen ihrer selbst herauszuschälen vermag. Ein wenig scheu bleibt man aber doch bei all diesen Phänomenen, denn selbst wenn es die dezidierte Aufgabe ist, ein Wohnen aufzulösen, kommt man sich mitunter ein bisschen wie ein staunender Störenfried in einer fremden Biografie vor. Gerade wenn man so viele Zähne findet, auf die man fühlen kann.