Im Mittelalter galten (auch in unserem Kulturkreis) die Haare einer Frau als aufreizend. Sie zu zeigen, war nur unverheirateten Mädchen gestattet. Vom Zeitpunkt ihrer Hochzeit an musste eine Ehefrau ihr Haar zum Zeichen ihrer Anständigkeit unter einer Haube tragen. Seit zwei Wochen ist nun auch unsere Anna glücklich „unter der Haube“. Außer bei strengen Minusgraden freilich trägt sie eine solche nicht, sondern Tag für Tag ihren Radhelm für die einstündige Fahrt zu ihrer Arbeitsstelle.
Am Tag der standesamtlichen Trauung allerdings kam sie dem lange gehegten Wunsch der Brautmutter nach und tauschte ihn nach anfänglicher Abwehr („Ich setz mir sicher kein Beet auf den Kopf“) gegen einen wunderschönen Kranz aus frischen Blumen und Blättern. Bereits bei dessen Anprobe bewährte sich das Siegerprodukt einer langen Testreihe in der Kategorie „wasserfeste Wimperntusche“, das in den folgenden Stunden noch mehrmals aufs Äußerste gefordert war.
Überhaupt herrschte Uneinigkeit darüber, welcher Moment der emotionalste des Festes war. Zur Wahl stand Annas lange Abschiedsumarmung, als ich sie nach unserem feierlichen Einzug in die Kirche ihrem Bräutigam übergab (Astrid), dem Vortragen der Hochzeitskerze und der Eheringe durch die beiden kleinen Nichten der Braut (Antonia), die von verschiedenen Familienmitgliedern gelesenen Fürbitten (Nikolaus), das von Dominik und Jakob gesungene und auf Keyboard und Gitarre begleitete Lied „The book of love“ (Benedikt), das von den jungen Leuten mit fester Stimme gesprochene Eheversprechen (Klemens).
P.S.: Da ich mehrere diesbezügliche Anfragen erhalten habe, möchte ich festhalten, dass Anna kein blaues Strumpfband getragen hat. Vor dem traditionellen Walzer mit dem Brautvater gab sie mit ihrem Ehemann einen flotten Jive zum Besten. Der von ihrer Schwester Sophie choreografierte und mit strenger Konsequenz einstudierte Tanz erforderte nicht nur Kondition und Akrobatik, sondern aufgrund eines Saltos auch blickdichte Sportbekleidung unter dem blütenweißen Brautkleid.
Gottfried Hofmann-Wellenhof