Aus Anlass des Nationalfeiertags fragte ich vor vielen Jahren meine Kinder, was sie mit dem Begriff Österreich verbinden. Ihre Antworten im Telegrammstil: Berge, Bauern, Wald, schwache Fußballnationalelf, Frieden, Freiheit, Heimat, Geborgenheit. „Und was ist für dich typisch österreichisch?“, wollten sie von mir hören. Da fiel mir eine Anekdote meines Vaters ein. Als politischer Mandatar genoss er das Privileg, die Verkehrsmittel der ÖBB gratis zu benützen. Der Fahrausweis berechtigte ihn nicht nur, mit Bahn und Bus zu reisen, sondern sogar per Schiff. Als eines schönen Herbsttages auf einer Fahrt über den Hallstättersee der Juniorchef auf meinen Vater zutrat, um zu kassieren, verweigerte dieser ihm den Obolus mit dem Hinweis auf seine Freikarte.
„Das hab´ ich noch nie g´hört, dass einer so eine Freikarte hat“, gestand er treuherzig. Mein Vater wies ihm das Dokument vor, auf dem sogar sein Name als Linieninhaber angegeben war, und fügte in böser List hinzu: „Ja, bekommen Sie denn keine Pauschalabgeltung vom Verkehrsministerium für die Gratisschifffahrten der Parlamentarier? Die müssen Sie anfordern.“ Aber schon befiel ihn Reue ob dieser staatsbürgerlichen Schurkerei, da so ein Rat ja eine Lawine neuer Schreibtische auslösen könne. Seine bange Fantasie schuf schon einen eigenen Ministerialrat mit dazugehöriger Bürokratie. So sagte er rasch: „Aber ich bitt’ Sie, ich hab´ doch nur zum Spaß meine Karte hergezeigt, selbstverständlich zahle ich Ihnen meine Überfahrt.“
Und nun trat das schlechthin Österreichische in Aktion. Der Schiffseigentümer nämlich wollte durchaus keine Bezahlung mehr. Er hatte sich von der Berechtigung meines Vaters überzeugt. Jetzt war mein Vater wieder am Zug: „Bitte sein’S g’scheit und lassen’S mich bezahlen.“ Da bemerkte er, wie plötzlich ein Einfall das Gesicht seines sympathischen Widerparts erhellte: „Wissen'S was – ich geb´ Ihnen eine Kinderkart'n!“ Dann zeigte mir mein Vater die Karte, die er in seiner Schreibtischlade aufbewahrte, mit den Worten: „Siehst du, das ist ein ganz kleines Stück Österreich.“
Gottfried Hofmann-Wellenhof