„Das Geschrei nach Verteilung kann nicht die Lösung sein.“ Durch Mark und Bein ging vielen Menschen dieser Satz, mit welchem Alexander Schallenberg als Außenminister die Aufnahme von Kindern aus dem abgebrannten Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos ablehnte. Die Zusatzformel „Hilfe vor Ort“ war nicht "als auch", sondern "anstatt" gemeint. Aus den Worten sprach das Kalkül der Kälte, mit welchem Sebastian Kurz sein türkises Projekt gegenüber Herbert Kickl & Co. eisig abgrenzte. Mit erbärmlicher Duldung der Grünen übrigens. Es wird ein wichtiger Teil der von Bundespräsident Alexander Van der Bellen eingeforderten Vertrauensrückgewinnung sein, ob Schallenberg als Bundeskanzler – gemeinsam mit dem neuen Außenminister Michael Linhart – das um das Humane gehüllte politische Packeis auftauen kann oder ein Schatten – der Schattenkanzler Kurz – es weiterkühlt. Dafür darf es auch für Werner Kogler und Sigrid Maurer keine jämmerliche Ausrede mehr geben. Man darf sich nicht über herablassende Worte der Kurz-Partie über Reinhold Mitterlehner entrüsten und frostiges Hinwegsehen über Menschenrecht aus Koalitionstreue hinnehmen. Das wäre extrem unglaubwürdig. In Worten und Taten steckt hier ein enormer Sprengstoff für das Kabinett Schallenberg-Kogler.
Das Bindemittel zur Vertrauensbildung innerhalb der Koalition, aber vor allem für das enttäuschte Volk, ist hingegen eine echte Reformagenda für Österreich. Es ist gut und wichtig, dass durch den Kurz-Abtritt aus seiner Regierung die erste Öko-Steuerreform und das Klimaticket doch umgesetzt werden können. Die Frage ist: Will und kann Schallenberg als Bundeskanzler eine eigene Agenda entwickeln, die über plakative Erfolge, über Klientel-Verteilung und über Überschriften im Koalitionspapier hinausgeht? Notwendig wäre eine Agenda 2030, welche die von der „neuen Politik“ des Sebastian Kurz unangetasteten großen Themen der Verwaltungs- und Staatsreform, der Pensions- und Gesundheitsreform angeht. Eine Agenda 2030, welche die Digitalisierung und Innovation nicht bloß mit einer Verteilung zurückfließender EU-Mittel versucht, sondern mit einer echten Bildungsreform umsetzt. Eine Agenda, die auch für Transparenz und das Ende der erkauften Verhaberung zwischen Politik und Medien sorgt.
Heute schlägt die Stunde des Parlaments. Dramaturgisch entschärft zwar, weil Sebastian Kurz dem Fanal seiner zweiten Abwahl zuvorkam. Es stehen Misstrauensanträge an gegen Finanzminister Gernot Blümel (von der SPÖ) und gegen die gesamte Bundesregierung (von der FPÖ). Vor allem aber die Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers Schallenberg. Man wird ihn daran messen, was er über die von ihm angekündigte enge Zusammenarbeit mit ÖVP-Obmann Kurz an eigenen Akzenten setzen kann. Sebastian Kurz, gestern Abend im ÖVP-Parlamentsklub in geheimer Abstimmung einstimmig zum neuen ÖVP-Klubobmann gewählt, wird fehlen und erst am Donnerstag als Abgeordneter angelobt. Gegen ihn und seine zum Teil beurlaubten System-Mitarbeiter richten sich die Justizermittlungen und ein baldiger neuer parlamentarischer Untersuchungsausschuss. All dies blickt, notwendigerweise aufarbeitend, zurück. Schallenberg muss nach vorne schauen.
Bleiben Sie zuversichtlich
Adolf Winkler