Eine Ostberliner Schriftstellerinnenfreundin hat mir aus ihrer DDR-Kindheit berichtet und erzählte von der Freundschaftsbrigade, zu der sie noch immer ein sentimentales Gefühl habe. „Freundschaftsbrigade?“ Das Wort kannte ich nicht. „Das waren Leute aus der Arbeitswelt, die eine Patenschaft für eine Schulklasse übernommen haben. In meinem Fall waren es Drucker. Tolle Leute. Die haben uns die ganze Schulzeit über besucht und unterstützt.“
Ich komme aus Düsseldorf, zu meiner Schulzeit die deutsche Hauptstadt der Werbeindustrie. Ich bin froh, dass nicht ständig Werbefuzzis mit roten Brillen und Kreativzöpfen in meine Schule kamen. Aber Freundschaftsbrigade klingt eigentlich ganz gut. Wie vieles aus dem DDR-Sprachgebrauch heute ganz gut klingt. Erdmöbel waren Särge, Fähnchen nannte man Winkelemente. Engel waren Jahresendflügelfiguren und zu Windsurfen sagte man Brettsegeln. Kartoffeln, Reis und Nudeln standen auf Speisekarten zusammengefasst als Sättigungsbeilage und wer einmal in der DDR im Restaurant gegessen hat, wird den Begriff nachvollziehen können. Eine triste, geschmacklose Sättigungsbeilage, „zum Scheißen reicht’s“, wie ein Hamburger Freund es formulieren würde.
„Ich wohnte damals am Prenzlauer Berg in einer Einraumwohnung in einem Altneubau“, erzählte meine Freundin. Altneubau erschien mir ein widersprüchlicher Begriff zu sein, Einraumwohnung kannte ich als Bezeichnung. Bei einem Auftritt in einem großen Zelt am Schloßplatz vor dem Palast der Republik unterhielt ich mich einmal mit einem Security-Mitarbeiter. Er blickte wehmütig auf den Palast der Republik. „Da war ick 89, bei die Demonstrationen. Aber ick hab nich demonstriert, ick war Vopo, Volkspolizist. Das Ende der DDR war das Ende meiner Karriere. Heute leb ick in einer Einzimmerwohnung. Aber mit Balkon. Ohne Balkon hätt ick mir schon umjebracht.“ Ein gebrochener Mann, mit dem Fall der Mauer brach auch sein Leben zusammen. Ich weiß nicht, ob der depressive Einraumbewohner als Volkspolizist auch Teil einer Freundschaftsbrigade war. Vielleicht ist er mit seiner Gehhilfe (Trabant) zusammen mit seinen Patenkindern zu einem Gastmahl des Meeres (Fischgaststätte) gefahren und hat zwanzigmal Fisch mit viel Sättigungsbeilage bestellt, und vielleicht haben die Kinder danach glücklich ihre Winkelemente geschwungen, als er wieder zum Palast der Republik zurückmusste, um den Sozialismus zu retten.
Mein Gespräch mit dem Vopo ist schon Jahre her. Vielleicht liegt er längst in einem Erdmöbel, nachdem sein Wohnraum mit Balkon freigelenkt wurde, wie man die staatliche Einflussnahme auf die Beendigung von Mietverhältnissen in der DDR umschrieb. Das wäre für den ehemaligen Abschnittsbevollmächtigten der Vopo das Ende gewesen. Balkonlose Sinnlosigkeit, ein Leben wie eine Sättigungsbeilage. Die Ostberliner Schriftstellerinnenfreundin heißt übrigens Marion Brasch, es lohnt sich sehr, ihre Bücher zu lesen.
Dirk Stermann