Vor ein paar Monaten nahm meine dreijährige stoppellockige Nichte auf meinem Schoß Platz, schmiegte sich an mich und forderte mich wild entschlossen auf, ihr auf meinem Telefon Babyfotos ihrer selbst zu zeigen, Aufnahmen von früher und damals, sozusagen einen Blick in ihr Verständnis der Unendlichkeiten der Vergangenheit zu werfen. Aufmerksam und mit größter Spannung besah sie die Bilder, auf denen sie noch kleiner als klein war, wischte nach links und wischte nach rechts, griff sich bei jedem zweiten mit echter Rührung ans Herz und sagte in jenem Ton, den Erwachsene für Kinderfotos übrighaben: Awww, bin ich süß. Ihr Gesicht strahlte, ihre Augen leuchteten.
Sie war ergriffen von sich selbst, und schon bald wurde die Fotoschau uns erst Gewohnheit, dann ein überstürzt lieb gewonnenes Ritual, eine kleine persönliche Zeremonie der Metarührung, in der ich jedes Mal aufs Neue von ihrer Rührung gerührt bin – und auch ein bisschen belustigt. Lächelnden Kindern steht jedes Gefühl, aber ich komme nicht umhin, an die Menschen zu denken, die auch später die Andacht vor sich selbst nicht ablegen können, und gern mit Tränen in den Augen in den sozialen Medien bekannt geben, wie sie einer Dame über die Straße geholfen, einem Greis den Lichtschalter im Treppenhaus betätigt, einem Armen eine Münze zugesteckt oder ihren Nachbarn nicht verklagt haben: im Namen der Menschlichkeit. Da fühlt man, da weiß man deutlich, Eigenrührung hat ein Ablaufdatum.
Aber sonst ist es ein schönes und ein seltenes Phänomen, dieses unmittelbare Angegriffensein von der Welt, wenn sie einem plötzlich nicht gleichgültig ist, aber unter die Haut fährt und ins Herz springt. Mit einem Mal verliert der Mensch seine Inselhaftigkeit, aber versteht sich für ein paar Augenblicke als Teil des merkwürdigen Universums, das mit allen Händen nach ihm greift. Die Grenzen, Schutzwälle und Verpanzerungen werden kurz aufgehoben, man wird permeabel. Manche Landschaften rühren einen an mit ihren Formen, ein Lied aus einer vergangenen Zeit, ein vertrautes Gesicht, eine fremde Geschichte, in der man sich oder den anderen wiedererkennt, und mitunter gar nicht weiß, wieso.
Wenn die Welt einen einholt, muss man die Dinge gar nicht selbst erleben, es kann reichen, wenn man sie aus der Ferne, von der anderen Straßenseite oder im Kino beobachtet, dass sie einem nahgehen: Dann ist man berührt von einem, der immer gewinnen wollte und endlich gewinnt, oder von zweien, die einander zum Abschied winken oder von einem Hund, der zum Schluss ein Zuhause findet. Es ist eine zeitversetzte Katharsis, denn wenn man diese Dinge selbst erlebt, hat man vielleicht gar keinen Platz und gar keine Möglichkeit für diese Gefühle. Aber man muss sich keine Sorgen machen: Was auch passiert, die Welt packt einen immer wieder, auf die gute oder die schlechte Art – entkommen kann man ihr nicht.