Jeder Palmsonntag erinnert mich daran, wie früh im Leben Standesdünkel und der Kampf um die Rangordnung schon beginnen können.
Wir Kinder trugen an dem Tag Palmbuschen in die Kirche, auf dass diese mittels Weihe zum rituellen Kultgegenstand aufgewertet werden würden. Groß bzw. lang mussten sie sein. Während die meisten Erwachsenen Buschen in der ungefähren Länge eines Kochlöffels trugen, mussten uns unsere deutlich überragen. Je höher sie waren, desto besser. Und etwas neidisch blickten wir auf andere Kinder, die noch Längere hatten.

Doch auch die erwachsene Gesellschaft kennt das Phänomen. Seit dem Bau der Geschlechtertürme ab dem 12. Jahrhundert. Dieweil Kirchtürme die Erhabenheit Gottes einmahnen, sind Geschlechtertürme Privatsache.
Zum einen boten sie in den fehdenreichen Zeiten einen gewissen Schutz, zum anderen aber signalisierten sie Wohlstand und Macht der Familie.
Es gab welche in Nürnberg, Regensburg, Bologna etc. Aber nirgendwo in solcher Höhe und Dichte wie im toskanischen Weiler San Gimignano. Über ein Dutzend dieser Türme signalisieren schon von Weitem eine Art kollektiver Dauererektion.

Türme werden von Männern gebaut und auch von Männern manchmal verhindert. Dass aus dem Wiener Museumsquartier der ursprünglich geplante Leseturm nicht herausragt, den ein erotisch versierter Medienzar heftig bekämpft hatte, wird wohl kein Zuphall sein.
Als meine Schwester und ich so um die zwölf waren, überraschte uns unser Vater mit einem Mini-Palmbüscherl als lieb gemeintes Zeichen unseres Erwachsenwerdens. – Auf unseren Protest hin schnitt er neue Zweige. Sie waren doppelt so hoch wie wir.