Die beiden Enkeltöchter stritten nach alter Kinderweis: „Gib mir das Tigerbaby!“, flehte die Zweijährige und versuchte es zu erhaschen. Die Fünfjährige hielt es lässig in die Höhe, ungerührt ob der Tränen der Kleinen. Tänzelnd, das Tigerbaby (es gab nur das eine) in ihrer Hand, bewegte sie sich durchs Zimmer, im Schlepptau ihre jüngere Cousine. „Nur ich habe ein Tigerbaby, und du hast keines“ – uralt zeitlos ist der Triumph der Größeren, in dem die Erbsünde üblen Neides verborgen ist. Astrid wollte diesem subtilen, alle Zeiten überdauernden Spiel nicht länger zuschauen, nahm die Kleine auf den Schoß und las ihr ein Buch vor. Der Reiz, das einzige Tigerbaby in Händen zu halten, war augenblicklich weg. Achtlos lag es wieder in der Kiste.
Die folgende Begebenheit handelt von meinem Vater und seinen beiden älteren Geschwistern. Der Bruder verfasste gerne Gedichte. In einem schilderte er den Kampf eines Seehelden, der schließlich „im grünen Seidenkleid“ (wahrscheinlich wollte er damit die Algenwelt des Wassers darstellen) auf dem Meeresgrund liegt. Die Schwester begann beim „grünen Seidenkleid“ hemmungslos zu lachen, was der Bruder lässig abtat: „Du bist für eine solche Formulierung einfach zu blöd.“ Die Schwester sann auf Rache. Auf Dutzende kleine Zettel schrieb sie die Worte „im grünen Seidenkleid“, knüllte sie zusammen und schüttete sie heimlich in das brüderliche Bett. Nachdem der junge Dichter beim Schlafengehen unter der Decke seinen Fuß aus dem raschelnden Haufen erschrocken zurückgezogen hatte, nahm er den ersten Zettel und las mit leiser Stimme: „Im grünen Seidenkleid.“
Die Geschwister erwarteten einen Wutausbruch, aber nichts dergleichen geschah. „Im grünen Seidenkleid.“ Stück um Stück, mit immer leiser, wehmütiger werdender Stimme las er „Im grünen Seidenkleid.“ Keinen Zettel ließ er aus, dann löschte er das Licht. Da begann die Schwester zu weinen und mit ihr mein Vater – früher in der Verschwörung, nun in der Beschämung mit ihr vereint. Lebenslange Lehre: Nicht sollst du verspotten, woran eines anderen Herz hängt.
Gottfried Hofmann-Wellenhof