In einer Zeit, in der körperliche Distanz oberste Bürgerpflicht ist, mag ich heute über das Gegenteil schwadronieren, über die ultimative Nähe.
Nein, nicht über klassischen Sex, aber über eine Vorform, über den Kuss, den innigen, leidenschaftlichen. Bei Wikipedia findet sich eine staubtrockene Beschreibung: „Kuss: oraler Kontakt mit einer Person oder einem Gegenstand“. Auf die Schnelle fiele mir kein Gegenstand ein, den ich gerne küssen würde. Die Menge an (weiblichen) Personen indes ist stattlich. Na ja, ein paar Bruderküsse kann ich mir auch vorstellen, Bussi links, rechts, links. Aber das hat nichts Erotisches.
Manche Anthropologen nehmen an, dass das Küssen bei der Fütterung von Kleinkindern entstanden ist, denen Urzeit-Mütter vorgekaute Nahrung in den Mund geschoben haben. Dem widerspricht eine weltweite Studie, der zufolge nur in 46 Prozent aller Kulturen das Küssen üblich ist.
Es wird ja kein Zufall sein, dass in streng islamischen Ländern das Küssen im öffentlichen Raum streng verboten ist und hart geahndet wird. Aber auch im Christentum hat(te) man eine reservierte Haltung gegenüber intensivem Mundkontakt. Dabei kann der herrlich sein. So fühlten sich meine ersten bekommenen Küsse wie Sex an. Mit dem Vorteil, dass niemand schwanger werden würde.
Jedoch gibt es dabei schon einen regen Austausch kleiner Wesen. Die Wissenschaft schätzt, dass bei einem ambitionierten Zungenkuss etwa 80 Millionen Bakterien und Viren ihren Wirt wechseln. Und weil derzeit ein Mikrowesen darunter ist, das niemand gerne bewirten möchte, dürfen wir einander nicht küssen. Nur darüber schwadronieren.
Frido Hütter