Wir haben als Motto für die heutige Titelseite ein Brecht-Zitat gewählt. Es wird Ihnen geläufig sein. Marcel Reich-Ranicki pflegte damit sein „Literarisches Quartett“ zu beschließen. „Und sehn betroffen/den Vorhang zu und alle Fragen offen“.

Auch der Wahltag steht für das Offene, Ungeklärte. So viel Offenheit war nie. Wir wissen nicht, wer es ins Parlament schaffen wird. Es könnte ein Sextett sein, ein bunter Fächer, oder das alte Dreigestirn aus ÖVP, SPÖ und FPÖ. Das wäre ein paradoxer Rückwärtssalto ins Jahr 1986, Österreich noch einmal von vorn. Zu wünschen ist es dem Land nicht.
Man mag sich über die Irrungen der Grünen die Haare raufen, ihr Ausscheiden aus dem Parlament wäre ein Verlust. Gleiches gilt für die Neos. Wer will, dass das Land in einen natürlichen Pendelschlag zwischen Mitte rechts und Mitte links kommt, anstatt dauerhaft im Unglück Großer Koalitionen zu landen, braucht die Grünen. Aus ihrer ideologischen Verengung sollten sie sich befreien.

Was auffiel: Die Kandidaten der drei Mittelparteien operierten allesamt mit subtilen Trugbildern von sich. Die Wähler müssen hinter Hüllen blicken, um noch einmal Glaubwürdigkeit und Substanz zu prüfen.
Christian Kern trat als moderner Manager in die politische Arena, um die Firma Österreich flottzumachen, und ließ sich zum antikapitalistischen Umverteiler und Robin Hood umformatieren. „Konzernversteher“ gebrauchte er als Schimpfwort. Am Schluss war er wieder er.

HC Strache gab den Gereiften, Europatreuen, um nur ja nicht wieder die Bürgerlichen zu verschrecken und als kulturell unverträglich zu gelten. Kein Stein soll im Wege stehen.

Und Sebastian Kurz gab cleveren Marketingprofis gleich eine Neudeutung seiner Person in Auftrag. Kurz erschien wie ein Oppositioneller, ein von außen einschwebender Diagnostiker der Zustände. Mit seinem Hybrid-Konstrukt aus abgedunkelter Partei und darüber gestülpter Liste Ich gab er sich den Anschein des Neuen, Parteifernen und beklagte „Reförmchen“, die er selbst mitbeschlossen hatte. Aber das neue Ich hatte sich vom alten so wirkungsvoll entkoppelt, dass die Frivolität nicht auffiel. Von den drei Mutationen war es das ausgeklügeltste Modell, angesiedelt zwischen Rollenintelligenz und Voodoo-Marketing.

Kurz gilt als Favorit. Er hat rechts mit rechts bekämpft und knapp vor den Rändern haltgemacht. Er hat blaue Versatzstücke wie Monothematik, Beschwörung von Heldenmut und Opfermythos von der FPÖ entlehnt und hat sie in sein Konzept eingewoben. Es ist ein Laborversuch, der heute mitverhandelt wird.

Die interne Machtprobe steht Kurz erst nach der Wahl bevor. Dann folgt der große Wirklichkeitstest. Dann muss er, mit wem auch immer, den hohen Erwartungen gerecht werden und muss bekennen, wer die Opfer bringt, um die Senkung der Steuerlast zu finanzieren. Alle haben sie hier wortreich geschwiegen, so lange, bis der Vorhang zufiel.