Bühnengespräch mit einem 95-Jährigen im weststeirischen St. Stefan, im Stieglerhaus des Schauspielers August Schmölzer. Paul Lendvai ist gut drauf und der Saal randvoll. Soeben ist er aus Oslo zurückgekehrt, Reise zum 20. Hochzeitstag. Es sei alles eine Frage des Glücks im Leben. Er habe als Junger die braune Diktatur überlebt, dann die rote und Jahrzehnte später einen Herzinfarkt im ORF bei einer seiner Sendungen. Eigentlich sei er gar nicht 95, scherzt er, denn er zähle seine Lebensjahre erst, „seit ich in Wien bin“. Dem Land verdanke er alles, auch wenn es eine gewisse Schwäche für politische Verführer bewahrt habe. Es stehe durch seine Geschichte unter Beobachtung. Das Land sei von innen gefährdet. Austria behind the mask, heißt eines seiner Bücher, das auf Deutsch nachsichtiger klingt: Vielgeprüftes Österreich.
Und obwohl dieses Land gefährdet sei und bleibe, auch durch den „schleichenden Niedergang der politischen Eliten“, sei alles, was gut und schön sei in seinem Leben, mit Österreich verbunden. In dieser Ambivalenz bleibe er mit dem Land verwoben bis ans Ende der Tage, das so fern ist wie die Galaxie, wenn man ihn reden, denken und mahnen hört mit der Leidenschaft eines 30-Jährigen. Und weil das seine Grundhaltung als Zugewanderter sei, als „jüdischer Migrant mit ungarischem Dialekt, den mir die Leute nachsehen“, verlange er von den Migranten der Gegenwart, die hier Schutz fänden, dasselbe, und zwar Dreierlei: Ein Grundmaß an Dankbarkeit, hier sein zu dürfen; ein Grundmaß an Bereitschaft, die Kultur des Landes und seiner Menschen anzunehmen sowie ein Grundmaß an Bereitschaft, dem Land durch Fleiß und Willen etwas zurückzugeben. Dass das „durch die Fremdheit der anderen Zivilisation“ nicht eingelöst werde, jedenfalls nicht in dem Ausmaß, das er für das Zusammenleben als notwendig erachte, sei zu einem veritablen Problem geworden, das ihn, Lendvai tief bekümmere. Für die Wahlen hoffe er, dass ÖVP und SPÖ, die, die das Land so lange getragen und zu Wohlstand und Reichtum geführt hätten, zueinanderfinden, und wenn es nicht mehr ausreiche, halt einen Dritten im Bunde dazunehmen.
Und während er so spricht im Schilcherland, stehen einander zur selben Stunde im Fernsehstudio in Wien die beiden Bannerträger von Schwarz und Rot gegenüber, Karl Nehammer und Andreas Babler. Vom Staatstragenden sind vorerst nur die beiden dunkelblauen Anzüge und dunkelblauen Krawatten übriggeblieben, der Rest ist schrille, wechselseitig bekundete Feindseligkeit. Es geht um keinen neuen Erzählbogen für das Land und schon um gar keinen, der in die Zukunft gespannt wäre, es geht beiden darum, den jeweils anderen zu brandmarken, Babler als ideologisch verblendeten „Marxisten“, für dessen Partei das Weitergeben von Kindergewand eine Zumutung sei und Nehammer als sozialen Eisbär, der nicht wisse, wie das sei, wenn die kleine Wohnung plötzlich 200 Euro mehr koste, die Kinder sich keine Schuhe mehr leisten können und als Abhilfe vom Kanzler „Burger verteilt“ bekämen. So ging das dahin, bis zur Stelle, die den Tiefpunkt des Zwiegesprächs markierte, dem Moment, als Babler, „schwer angewidert“ seinem Gegenüber den Satz ins Gesicht schleuderte: „Sie sind der Totengräber der politischen Mitte“. An diesem Abend schaufelten sie beide und wussten es nicht.