Die hitzigen Debatten um das problematische Verhalten der grünen Spitzenkandidatin für die Europawahl münden in der Frage, welche Bedeutung der Charakter eines Menschen für seine Eignung als Politiker hat. Dabei wird unterstellt, dass es ein stabiles Set von Eigenschaften gibt, das einen Menschen kennzeichnet und sich in unterschiedlichen Lebenslagen bemerkbar machen wird. Geborene Lügner lügen immer, herzensgute Helfer helfen immer. Dieser Essentialismus, der von einem unveränderlichen Wesen einer Person ausgeht, vergisst, dass wir nicht nur lernfähig und bildsam sind, sondern dass sich manche Eigenschaften, von denen man gar nicht wusste, dass man sie besitzt, erst in unerwarteten Situationen zeigen. Und auch die Persönlichkeit eines erwachsenen Menschen kann durch die Umstände und deren Erfordernisse gravierend modifiziert werden. Wohl gibt Gott nicht jedem mit einem Amt auch den dazu notwendigen Verstand, aber wir verändern uns – manchmal im Guten, manchmal im Schlechten – mit übernommenen Aufgaben.