„Leverkusen wird nie etwas gewinnen. Nie, nie, nie!“, rief ein fassungsloser brasilianischer Fußballer namens Emerson Ferreira da Rosa im Mai 2000 auf einem Fußballplatz im bayerischen Unterhaching. Seine Mitspieler Michael Ballack, Torben Hoffmann und Jörg Reeb saßen nebeneinander auf der Ersatzbank und starrten ins Leere. Im Kabinengang hielt Trainer Christoph Daum seinen weinenden Sohn in den Armen. Stille, Tränen, ungläubiges Kopfschütteln bei Stars wie Ulf Kirsten, Bernd Schneider oder Zé Roberto. Was an jenem 20. Mai 2000 passierte, sollte ins kollektive Gedächtnis des deutschen Fußballs eingehen. Mit drei Punkten Vorsprung auf den großen und oft übermächtigen FC Bayern München war Bayer 04 Leverkusen damals, am 34. und letzten Spieltag der Fußball-Bundesliga, nach Oberbayern gefahren, um mit einem Punktgewinn gegen Mittelständler SpVgg Unterhaching den ersten Meistertitel der fast 100-jährigen Vereinsgeschichte zu feiern.
Ein Eigentor von Michael Ballack, der noch am Beginn seiner Weltkarriere stand, leitete jedoch eine 0:2-Niederlage ein – die Bayern zogen mit einem abschließenden Heimsieg gegen Werder Bremen und dem besseren Torverhältnis an der Werkself aus Leverkusen vorbei und holten wieder einmal den Titel. „Unsere Sehnsucht nach diesem Titel war einfach zu groß – vielleicht hat uns das blockiert“, erzählte Emerson dieser Tage im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Die im Rheinland geplante Meisterparty wurde abgesagt, das Etikett „Vizekusen“ war geboren und wurde 2002 verstärkt, als Leverkusen sowohl Champions-League-Finale als auch deutsches Cupfinale verlor – und erneut Vizemeister wurde.
In der darauffolgenden Saison stürzte die von manchen Fußball-Traditionalisten stets kritisch beäugte Werkself (der Chemie- und Pharmakonzern Bayer AG ist die Muttergesellschaft des Fußballklubs), die aber schon seit 1979 ununterbrochen in der Bundesliga spielt, auf Tabellenrang 15 ab. Aus „Vizekusen“ wurde in der deutschen Boulevardpresse kurzfristig „Loopingkusen“. 2011 und 2013 folgten zwei weitere von insgesamt fünf Vizemeisterschaften – „Vizekusen“ reloaded. In der Vorsaison war wieder Looping nach unten angesagt, sodass der Schweizer Trainer Gerardo Seoane im Oktober 2022 gehen musste, nachdem das Team auf dem vorletzten Tabellenplatz gelegen war. Der spanische Ex-Profi Xabier Alonso Olano übernahm das Traineramt. Der Rest ist eine jener Geschichten, die sie nur der Sport schreiben kann.
Bei 1,7 Prozent lag laut Buchmachern vor Beginn dieser Saison die Wahrscheinlichkeit eines Titelgewinns von Bayer Leverkusen (Bayern: 67,5 Prozent, Dortmund: 17,5 Prozent). Seit gestern ist Leverkusen zum ersten Mal Deutscher Meister – mit kluger Transferpolitik, spielstarkem, taktisch variablem, diszipliniertem Fußball, einem hymnisch verehrten Trainer und scheinbar unbesiegbar: 79 von 87 möglichen Punkten nach 29 Spieltagen bedeuten ebenso einen neuen Rekord, wie zu diesem Zeitpunkt der Saison noch ohne Niederlage dazustehen. Überragender kann man sich einen Meistertitel kaum sichern. Statt #Vizekusen schreiben sie jetzt stolz #Meisterkusen und #Winnerkusen. Es lohnt sich, das Träumen nicht aufzugeben.
Einen sportlichen Wochenstart wünscht
Wolfgang Fercher