Konstantin Wecker glaubt an das Gute im Menschen. Nicht umsonst hat er sein neues, am Freitag erscheinendes Album "Utopia" getauft. Die Idee dazu habe er, ausgehend vom gleichnamigen Buch von Thomas Morus, "eigentlich immer schon in mir" gehabt, erzählt er im APA-Interview. "Ich war ja immer ein bekennender Anarcho, und bin es heute mehr als jemals zuvor", lacht der Sänger. Schließlich sei Anarchie ja genau das: "Die Idee und Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft."
Die neuen Lieder sind insofern eine Rückkehr zu den Wurzeln - sowohl inhaltlich wie auch musikalisch. Dabei sind sie eigentlich dem Zufall geschuldet. Oder besser gesagt: der Coronapandemie. "Ich wollte eigentlich im Vorjahr mit einem Programm 'Utopia' auf Tournee gehen. Aber da hätte ich die Lieder nicht gehabt", schmunzelt Wecker. "Eigentlich kann ich über die Pandemie also ganz froh sein. Mir sind in dem Jahr diese Gedichte passiert."
Erzwingen könne man so einen kreativen Ausbruch nicht. "Ich kann mir ein Sachbuch ausdenken oder einen Facebook-Post", meint Wecker. "Aber bei Gedichten ist das unmöglich. Die müssen passieren, müssen mich überraschen." Genau das sei geschehen. Vor allem hätte ihn überrascht, wie stark sich die neuen Texte mit dem Alter auseinandersetzen. "Das Schöne an der Poesie ist ja, dass man sich an das eigentliche Selbst erinnert, unverdeckt von der Ratio", so der 74-Jährige. "Die Ratio ist wichtig, keine Frage, aber mit ihr können wir uns auch viel vormachen und uns selbst betrügen. Daher mein Plädoyer für die Kultur: Es rührt etwas an, wo du nicht betrügen kannst, wo du wirklich und wahrhaftig mit dir selbst konfrontiert wirst."
"Als Künstler bleibt man immer der Suchende"
Fühlt sich der Künstler Konstantin Wecker heute bei sich angekommen, wie er in einem neuen Lied fragt? "Ich glaube, als Künstler bleibt man immer der Suchende", überlegt er. "Ich habe mich viel mit Spiritualität beschäftigt. Das Interessante ist, dass die Weisen zwar Lehrbücher schreiben, aber keine Gedichte. Sie leben es! Die Kunst hat eher eine Zwischenfunktion. Wenn du dann mal wirklich weise wärst, würdest du auch nichts mehr schreiben", schmunzelt der Sänger. "Das Schreiben ist immer die Sehnsucht danach."
Der Vorgang sei mittlerweile aber bewusster, als noch zu Beginn seiner Karriere. "Aber es ist nach wie vor so, dass meine Gedichte definitiv klüger sind als ich", unterstreicht Wecker. "Als junger Mann war ich eigentlich ein schrecklicher Macho. In meinen Liebesgedichten habe ich mir als Zwanzigjähriger aber eine Zartheit erlaubt, die ich in meinem Verhalten nie zugelassen hätte. Oder als es mir zwischen den 80ern und 90ern so schlecht ging, habe ich das in manchen Texten durchaus ausgedrückt. Mit der Ratio hätte ich das nie gemacht. Du nimmst ja Drogen, damit es dir gut geht beziehungsweise damit du so tun kannst. Im Innersten ging es mir natürlich gar nicht gut. Da sind ein paar erstaunliche Lieder entstanden. Ich wundere mich, dass ich sie veröffentlicht habe."
Musikalisch zeigt sich Wecker auf "Utopia" äußerst vielfältig, nutzt aber allen voran große orchestrale Arrangements für seine Stücke. "Mich erinnert es an meine Anfangszeit. Ich komme halt aus der Klassik", so der Musiker. "Mein Papa war Opernsänger, und ich war eine hinreißende Traviata mit zwölf Jahren", lacht er. "Ich habe alle italienischen Sopranpartien mit ihm gemeinsam zuhause gesungen." Letztlich sei sein musikalischer Ziehvater vielmehr Schubert denn französische Chansons oder amerikanischer Folk.
Dass er in den 80ern dann auch mit Kammermusik auf Tournee gegangen ist, findet er heute noch erstaunlich. "Dabei war das der Beginn des Punk! Die Leute wollten bestimmt etwas anderes hören. Sie sind nicht wegen, sondern trotz meiner Musik gekommen", meint Wecker. "Und mit dieser CD gehe ich heute wieder auf das zurück, was mich musikalisch geprägt hat. Mein Pianist sagt immer zu mir: Du bist ein gnadenloser Romantiker."
Romantisch schön und gut, aber rebellisch ist Wecker auch mit Mitte 70 immer noch. Ein Künstler, der den Finger in die Wunde legt, wie im Song "Schäm dich Europa". Braucht es gerade angesichts von Ungleichheit, Armut und Rechtsruck den utopischen Gedanken? "Würde er aussterben, würde die Menschheit zugrunde gehen", ist sich Wecker sicher. "Was haben wir in den letzten Jahrtausenden gemacht? Wir haben alles vernichtet, was uns eigentlich hilft, von der Natur bis zur Tierwelt. Und wir sind regiert worden von völlig malignen Psychopathen, von Caligula bis Trump. Wenn sich dieses Herrschersystem nicht ändert, dann überlassen wir alles diesen Menschen!"
Nicht zuletzt deshalb brauche es die Kunst. "Die Herrschenden selbst sind es, die uns immer wieder einreden, dass es verrückt und naiv ist, ohne Führer auskommen zu wollen - und der Neoliberalismus. Er behauptet: Der Mensch ist schlecht. Daher braucht er einen Herrscher, der auf ihn aufpasst. Dabei ist der Mensch ein empathisches Wesen", betont Wecker. "Sagt man das allerdings, gilt man als Spinner. Aber wer darf spinnen, wenn nicht die Kunst? Wie drückte es Goethe so schön aus: In der Idee leben heißt, das Unmögliche so zu behandeln, als ob es möglich sei."
Der coronabedingte Kultur-Stillstand der vergangenen Monate "schmerzt unglaublich", sagt Wecker. "Die Frage ist nur: Können wir es wieder herstellen, und was müssen wir dafür tun?" Er glaube, dass es manchen Politikern gar nicht so ungelegen käme, würde die oft sehr kritisch veranlagte Kultur weiterhin im Dämmerschlaf bleiben. "Es scheint ihnen recht zu sein, dass einige Stimmen nicht mehr da sind. Da müssen wir aufpassen!" Andererseits könne die Coronakrise auch eine "Chance sein, dass viele Menschen sehen, dass der Kapitalismus versagt hat", betont Wecker. "Vielleicht rückt bei vielen Menschen der Gedanke der Solidarität wieder in greifbare Nähe. Die Hoffnung ist schon da."
Christoph Griessner