Es sind kleine Lügen, die an die Stelle der großen Szenen getreten sind. Und die kleinen Flittchen glitzern anstelle der großen Stars. Es geht nicht darum, dass auch der Opernball heute nicht mehr das sei, als das er in verklärter Erinnerung einst firmierte: als der affektierte Auftritt des Luxus und der Moden. Ein Auftritt von solcher Wucht, dass Präsidenten und andere Zelebritäten sich gerne bitten ließen; dass es sich für politisch erboste Kritiker, für Anarchisten und für Spaßvögel lohnte, mit wilden Posen und gewaltigem Radau vor den Toren der Staatsoper dagegen zu protestieren.
Gar wenn sich der gefinkelte Atomkraftlobbyist Franz Josef Strauß auf dem Staatsball im Atomfeindesland Österreich freihalten ließ.
Wenig Feind, wenig Ehr'. Gekrönte Häupter aus dem Orient sind nach der arabischen Revolution keinen Hofknicks mehr wert. Und anstelle von Industriebossen von der Ruhr bereden mittelständische Schlachthofbesitzer aus Wanne-Eickel und Pittsburg (USA) mit ihren Kärntner Bankiers kroatische Malversationen. Da ist der Opernball ein fabelhafter Platz: Zusammenkünfte, die anderwärts von der Staatsanwaltschaft bereits als problematische Absprache gerichtsmassiger Materie beargwöhnt würden, sind hier heiteres Gesellschaftsleben.
Der wichtigste Ort des Universums
In den muffigen Gängen hinter den Logen, in denen sich die markanten Vorbauten sonst unbedeutender Robenträgerinnen wölben, verkehren Leute miteinander, die sonst auch immer miteinander verkehren, nur diesmal mit hochrotem Kopf vor lauter Aufregung, just in diesem Augenblick am wichtigsten Ort des Universums zu sein. Um die Logentüren, an denen der ORF seine Auswahl trifft, wer als nächster der Nation via TV versichern darf, dies sei der entzückendste aller Bälle, drücken sich die Wichtigtuer, die ihrer Silikonlippen oder sonstiger Verdienste wegen glauben, Auswahl erster Art zu sein. Wenn die ORF-Püppchen solche Anmutung nicht teilen, langen Enttäuschung und Unmut reichlich bis zum nächsten Opernball. Aber etwa mit einem wirklich originellen Gewand zu punkten oder zu provozieren? Die Fantasie hat sich andere Plätze gesucht statt des alten Künstlerballs, der sich selbst längst nicht mehr kennt.
Ach, wenn das doch wenigstens Anmut hätte. Früher war das Balltäschchen für Puder und Lippenstift. Heute zücken die Damen die Digitalkamera. So ist es vorbei mit dem schönen Schreiten, mit dem Aufzug und Abwallen auf den Stiegen, im Foyer der Staatsoper: statt gravitätischer Huld ein ständiges Rempeln und Postieren: Hier aufstellen - knips - dort anlehnen - knips - den umarmen - knips - über die Balustrade lehnen - knips - Bussi! Bussi! - knips. Eleganz? Wer nur posiert, bringt es nicht zu dieser großen Pose.
Die selben Leute, nur teurer
Wer allerdings tanzen mag, der ist auf dem Opernball zu Hause, wenn der Zeremonienmeister erst einmal sein "Alles Walzer!" ausgebracht und das grässliche Geschiebe auf der Tanzfläche nach wenigen Minuten sein Bewenden hatte: Vielleicht sind es die leidenschaftlichen Tänzer, die all dieses Geschubse und Gegackere, das Knipsen und Knapsen, das Kokettieren und Schieben in den düsteren Gängen und Stiegen heimlich anheizen, um daneben diese grandiose Fläche dann fast ganz allein für sich zu haben. Und wer auch da nicht mitmachen will, der sitzt in der Kantine bei Frankfurtern, um Opernballwitze zu erzählen oder zu ertragen, die man nur erzählt oder erträgt, weil man sonst seine Anwesenheit auf diesem Ereignis nicht recht begründen könnte. Wir wollen die kleinen Lügen nicht vergessen. Der Staatsball ist auch Faschingsball. Mit Großvaters Gefrierfleischorden von der Ostfront könnte man sich also als Pazifist genauso rechtmäßig zeigen wie Präsident und Kanzler in der rot-weiß-roten Schärpe. Und dass die Wiener Philharmoniker erstmals auf dem Ball aufspielen, ist auch gelogen, denn das Opernballorchester und die Philharmoniker sind nahezu identisch. Will heißen: Es sind doch dieselben Leute, heißen nur anders und geigen teurer als sonst. Dann die große Lüge, die Oper würde mit dem Staatsball verdienen: Jahr für Jahr hat Ioan Holender vorgerechnet, dass das Haus am Ring die 14 Tage Ausnahmezustand vor und nach dem Ball mit so viel Improvisation und Ausfällen umlegen muss, dass auch der Opernball das nie bezahlen kann. Doch wer sollte sich durch Berechnungen Vorurteile versauen lassen.
Ruby Rubacuori ist wenigstens schön. Richard Lugner hatte schon garstigeres Federvieh zu Gast. Und wiederum erschachert er sich wie jedes Mal mit seinem Flitterspiel so viel Schlaglicht, dass die Staatsballgewaltigen nächstens dann doch wieder nicht wagen, ihm die Loge vorzuenthalten, so sehr sie sich auch mokieren mögen. Dass Lugners Wahl geschmacklos sei, ist das die Neuigkeit? Hätte er eine glänzende Gestalt als vor Langeweile wächserne Karyatide in seinem Busenzirkus zu bieten, wir würden es anerkennend zur Kenntnis nehmen. Aber so? Alles beim Alten.