Monsieur Moreau, in ein paar Tagen ist Heiliger Abend – der zweite mit Corona. Lässt uns die Pandemie das Fest intensiver erleben?
DENIS MOREAU: Das Virus ruft uns die Bedeutung und Schönheit von vielem ins Bewusstsein, das mit Weihnachten verknüpft ist. Ich denke da besonders an die Familienfeiern. Corona hat sie im Vorjahr verunmöglicht. Mit Omikron könnte das heuer wieder der Fall sein. Viele fürchten, dass sie ihre Lieben erneut nicht treffen können. Für diese Wahrnehmung muss man aber nicht Christ sein.
Und was, wenn man es ist?
Dann ist Weihnachten das Fest Gottes, der sich zerbrechlich gemacht hat. Vielleicht ist die Coronakrise gerade für Christen eine Gelegenheit, sich ihrer Verletzlichkeit gewahr zu werden.
Wie erklären Sie die Anhänglichkeit vieler an Weihnachten, sogar solcher, die keine Christen mehr sind, oder gar nie waren?
Der katholischen Kirche in Frankreich geht es nicht erst seit der Veröffentlichung des traumatischen Missbrauchsberichts Anfang Oktober sehr schlecht. Die praktizierenden Katholiken machen nur noch zwei Prozent der Bevölkerung aus. Taufen und Hochzeiten brechen ein. Zugleich bezeichnet sich die Hälfte der Franzosen immer noch als katholisch. Dieser kulturelle Katholizismus kam besonders stark beim Brand von Notre-Dame de Paris zum Ausdruck. Die ganze Nation war erschüttert. Wäre das Schloss von Versailles abgebrannt, wäre es nicht dasselbe gewesen. Notre-Dame hat etwas berührt, das tief in die Franzosen eingeschrieben ist. Mit Weihnachten ist es ebenso. Die Kirchen sind voll. Die Menschwerdung Gottes in Gestalt eines Kindes verweist auf ein Christentum, für das die Leute empfänglich bleiben.
Ist das Christentum doch tiefer verwurzelt, als viele meinen?
Die christliche Prägung schwindet. An der staatlich-laizistischen Universität, an der ich unterrichte, biete ich ein Wahlfach über biblische Kultur an. Das Interesse ist groß. Zugleich ist es die erste Generation junger Leute, die nie in Glaubensfragen unterwiesen wurde. Die wissen nichts über das Christentum. Man sagt ihnen, dass es vier Evangelien gibt, und sie schreiben es brav auf. Ihre Wissbegier berührt mich. Den Jungen ist bewusst, dass da etwas erodiert, das wichtig für das Verständnis unserer klassischen Kultur ist.
Nicht mehr? Könnte die Jungen auch spiritueller Hunger treiben?
Bei meinen Studenten ist es nur kulturelle Neugier. Der Katholizismus als religiöses Angebot ist in Frankreich dabei, zur Splittergruppe zu werden. Deshalb bin ich ein Verteidiger des kulturellen Katholizismus, in dem das alte reiche christliche Universum irgendwie fortlebt.
Welchen Wert hat ein spirituell entleertes Christentum?
Die Kultur ist stets auch Vehikel für Werte. Oder als Paradox formuliert: Das Problem des Christentums ist, dass es gesiegt hat. Ohne es zu wissen, sind heute alle Leute mehr oder wenig christlich. Denn was war das Angebot des Christentums an die Welt? Jesus. Jesus und seine Moral kennt aber jeder. Gerechtigkeit und Nächstenliebe sind Ideen, die von allen ehrbaren Leuten geteilt werden. Auch der christliche Universalismus, der nach den Worten des Apostels Paulus nicht zwischen Jude und Grieche, Sklave und Freiem, Mann und Frau unterscheidet, hat sich in Europa durchgesetzt. Viele meinen daher, dass sie das Christentum nicht mehr brauchen. Das wirft für die Christen die spannende Frage auf, was sie der Welt noch zu bieten haben.
Und was haben sie zu bieten?
Freude. Ich finde ja, dass unsere Welt, anders als behauptet, keineswegs frei von Moral ist. Im Gegenteil! Es gibt zu viel Moral in der Welt. In den sozialen Netzwerken verbringen die Leute ihre Zeit damit, einander Moralpredigten zu halten. Aber unsere Gesellschaft kennt keine Freude mehr. Das Christentum könnte sie ihr wiedergeben. Jesus ist der Meister der Freude.
Dafür sind die Kirchen in Europa aber oft ziemlich freudlose Orte.
Schon Nietzsche meinte, damit er an ihren Erlöser glauben lerne, müssten ihm die Christen erlöster aussehen. Auch in Frankreich bekommt der Katholizismus etwas Mürrisches. Viele Gläubige sagen, die Republik schmiede Komplotte gegen sie. Damit werden sie nicht nur der Frohbotschaft Jesu untreu. Es ist auch kontraproduktiv. Wenn Meckern nämlich alles ist, was wir zu offerieren haben, weckt das bei denen, die nicht unseren Glauben teilen, keine Lust, sich damit auseinanderzusetzen.
Schmerzt es Sie, die alte katholische Welt schwinden zu sehen?
In seinen "Erinnerungen von jenseits des Grabes" zieht Chateaubriand Bilanz. Er hat in seinem Leben viel kommen und vergehen sehen, hat die Monarchie, die Revolution, das Kaiserreich und die Restauration erlebt. Doch nun, als alter Mann, erkennt er in der Gegenwart nichts von der Welt wieder, in der er gelebt hat. Ich frage mich, ob es bei der Beschleunigung des Fortschritts nicht normal ist, wenn man als 60-Jähriger heute feststellt, dass sich rund um einen alles verändert hat.
Gilt das auch für Religionen?
Warum sollten Religionen undurchlässig für die Zukunft sein? Ich tue mir schwer mit der dogmatischen Gewissheit, die junge französische Katholiken gesellschaftspolitisch an den Tag legen.
Was ist die große Herausforderung für Frankreichs Katholiken?
Sie dürfen nicht zur Sekte verkommen, sondern müssen mit der Welt im Dialog bleiben. Wir Christen müssen uns offen zeigen, am besten über gelebte Nächstenliebe. Ein großer Teil der karitativen Einrichtungen in Frankreich ist vom Engagement der Katholiken geprägt. Aber die Versuchung des Rückzugs ist da und ich kann sie verstehen. Wir waren einst die Mehrheit. Jetzt sind wir eine kleine Minderheit, die da und dort sogar Feindseligkeiten ausgesetzt ist. Der Islam ist im Vormarsch und das Gros der Franzosen denkt über viele Dinge anders. Ob Ehe für alle, Leihmutterschaft, künstliche Befruchtung, Euthanasie oder Abtreibung: Wir Katholiken finden uns in Opposition zu einer Gesellschaft wieder, die nicht so ist, wie wir sie gern hätten. Das ist eine neue Erfahrung. Wir müssen lernen, ohne Murren damit zu leben. Noch sind wir voll Bitterkeit und sehnen uns nach den früheren Zeiten zurück. Aber die Mauser hat begonnen.
Wie erleben Sie persönlich diese neue, ungewohnte Welt?
Ich finde ja, dass es heute in Frankreich sehr leicht ist, Katholik zu sein. Ich besuche die Messe, wann ich will, schreibe die Bücher, die ich schreiben will. An der Uni habe ich meinen Glauben nie versteckt. Die Kollegen sind nett zu mir. Zugleich merke ich, dass sie mich für einen etwas seltsamen Typen halten. Es beschäftigt sie, wie man heute noch katholisch sein kann, noch dazu als Philosoph.
Was antworten Sie?
Ich antworte wie George Clooney in der Kaffeewerbung: What else? Ich bin katholisch, weil es mir persönlich die Möglichkeit eröffnet, ein glückliches Leben zu führen.
Ist das nicht etwas egoistisch?
Wieso? Es ist die große Frage, die schon die antiken Philosophen beschäftigte und sich allen Menschen stellt. Was muss ich tun, damit mein Leben gelingt? Als ich ein junger Mann war, wollte ich weder heiraten noch Kinder in die Welt setzen. Ich wollte wie die Stoiker eine Festung sein, die nichts erschüttert. Die Auseinandersetzung mit dem Christentum hat mich vom Gegenteil überzeugt. Doch um zu heiraten und eine Familie zu gründen, habe ich meinen Schutzpanzer öffnen müssen. Denn sowohl die Ehe als auch Kinder machen einen verletzlich. Doch mein Leben ist intensiver und glücklicher geworden. Mir wurde ein Weg aufgetan, den ich sonst vielleicht nie eingeschlagen hätte. Ich habe meine Entscheidung nie bereut.