Es wird heute unentwegt von der »Rückkehr des Religiösen« gesprochen: Was halten Sie von diesem Begriff, und machen Sie ihn sich zu eigen?

Ja, ich würde sogar von einer offenkundigen Rückkehr des Religiösen sprechen. Ich erinnere mich, als ich ganz zum Ende der Neunzigerjahre Frankreich verließ, machte der bei der Jugend beliebteste Radiomoderator Frankreichs, Maurice, recht häufig Sendungen zum Problem der Banlieues, in denen er selbst aufgewachsen war. Das lässt sich alles im Internet finden, und wenn man sich diese Sendungen anhört, wird einem bewusst, dass er eine Stunde lang über die Banlieues reden konnte, ohne ein einziges Mal das Wort Islam zu verwenden. Ich bin im Jahr 2010 zurückgekehrt, und es wurde nur noch darüber gesprochen: Es war wirklich eklatant. In jüngerer Zeit konnte man auch den Eindruck gewinnen, es hätte ein Erwachen des Katholizismus gegeben, und das ist ganz und gar erstaunlich, weil der Katholizismus schon totgesagt war. Dieses Phänomen der Rückkehr des Religiösen ist also zunächst einmal völlig unvorhersehbar. Wer sagt, er habe es vorhergesehen, lügt: Das hat niemand kommen sehen. Es ist ein Phänomen von großer Plötzlichkeit, es hat sich mitunter im Laufe weniger Jahre vollzogen, und ich glaube nicht, dass es sich leugnen lässt. Ich habe beispielsweise das letzte Buch von Michel Onfray gelesen, das den Titel Décadence trägt. Das ist schon sehr merkwürdig, wenn man an die ersten Bücher von Michel Onfray denkt; gut, er war Atheist, aber es ist so offensichtlich, dass er es nicht einmal aussprechen musste: Die Tätigkeit der katholischen Kirche war an ihr Ende gekommen, sie war in einem langsamen Sterben begriffen. Und in diesem Buch – das ist lobenswert, denn das tun wenige Intellektuelle – hat er sich eines Besseren belehren lassen, er hat seine Meinung geändert und festgestellt, dass die Religionen wieder zu einer bedeutenden historischen Kraft geworden sind.

Sie haben in ihren Büchern die Religionen oft ins Visier genommen, begleitet von einer Art Jubel, der mitunter gar an den Ton von Charlie Hebdo erinnern konnte. Ist es für einen Schriftsteller ein besonderes Vergnügen, Religionen zu attackieren?

Das ist zu einem ziemlich gefährlichen Vergnügen geworden – was das Vergnügen auf eine Art steigert und auf eine andere Art schmälert. Aber ja, Religionen können, beispielsweise durch ihre unverständlichen Ausdrucksformen, ziemlich schnell lächerlich erscheinen. Andererseits ist es auch sehr amüsant, sich über den Kommunismus lustig zu machen … aber doch nicht ganz so. Das Lächerliche ist in den Religionen noch eher vorhanden: Man hat das Gefühl, an etwas Heiliges zu rühren, daher ist es aufregender. Die Religionen müssen noch über eine gewisse Handlungsmacht verfügen: Ich erinnere mich, dass Chesterton in einem seiner Bücher die Leser herausfordert, einen blasphemischen Text über den Gott Thor zu verfassen. Der Angriff gegen eine Religion wird von dem Gedanken begleitet, dass man ein Risiko eingeht, dass es ernst ist, dass es folgenschwer sein kann: Also ja, es birgt eine zusätzliche Aufregung, sich über eine Religion lustig zu machen.

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In Ich habe einen Traum. Neue Interventionen kritisieren Sie diejenigen, die »unfähig, die Religionen klar voneinander zu unterscheiden«, und damit »zu einem Werturteil erst recht nicht in der Lage« sind, denn, so schreiben Sie, »eine intellektuelle Prüfung der Religionen und eine Beurteilung ihrer Moral sind eine Aufgabe, der sich jeder Mensch stellen muss.« Muss man also den Wert der Religionen von einem moralischen Standpunkt aus beurteilen?

Ja, das ist richtig. Es gibt in Elementarteilchen nicht viele autobiografische Passagen, aber eine ist es durch und durch: Als ich sechzehn Jahre alt war, meldete sich während einer Unterrichtsdiskussion einer aus meiner Klasse, um zu sagen, seiner Meinung nach lasse sich der Wert einer Religion anhand der Qualität der Moral bemessen, die sie zu begründen ermögliche. Das hat mich nachhaltig erschüttert: Tatsächlich habe ich diesen Satz nie verwunden, er erschien mir so wahr, und er war mir nie in den Sinn gekommen. Ich habe meine Meinung also nie wirklich geändert: Es gibt eine absolute Moral, die von den Religionen unabhängig und ihnen überlegen ist.

In welchem Augenblick Ihres Lebens haben Sie begonnen, sich für Religion zu interessieren? Unter welchen Umständen und unter welchen Einflüssen?

Ich wurde von entchristianisierten Menschen großgezogen, die es jedoch schon so lange waren, dass sie nicht einmal mehr antiklerikal waren – das heißt, die Religion stellte für sie keine Bedrohung mehr dar: Sie war eine Art leicht bizarres Relikt. Daher kann ich mir nur schwer erklären, warum ich als Kind zur Sonntagsschule ging. Ich glaube, es lag daran, dass ich auf dem Land aufwuchs und es für Kinder sonst nichts zu tun gab. Es war eine andere Zeit: Es gab nicht einmal Fernsehen, jedenfalls hatte ich zu Anfang keins, ja im ganzen Dorf hatte niemand einen Fernsehapparat. Ich ging also zur Sonntagsschule, und ich erinnere mich, damals sehr interessiert an metaphysischen Fragen gewesen zu sein: Gibt es jemanden, der das Universum erschaffen hat? Hatte die Zeit einen Anfang? Wird sie ein Ende haben? Ich fand, dass man in der Sonntagsschule zu viel von den Übeln in der Dritten Welt sprach, dass das Ganze sozusagen etwas zu humanitär ausgerichtet war. Meine Fragen wurden dort nicht im Geringsten beantwortet. Auf dem Gymnasium nahm ich dann am Religionsunterricht teil, obwohl das freiwillig war und keinerlei Einfluss auf die Benotung hatte. In der Zwischenzeit hatte ich das Böse entdeckt, und ich interessierte mich sehr für die Frage des Bösen: woher es kam, ob Satan wirklich große Macht besaß, warum Gott das Böse zugelassen hatte … Doch tatsächlich erhielt ich auch dort keine rechten Antworten auf meine Fragen: Das war immer noch ziemlicher Pfadfinderkram. Und dann – das habe ich in meinen Büchern beschrieben – stieß ich mit fünfzehn Jahren mehr oder weniger zufällig auf Pascal. Und das versetzte mir einen wahren Schock, einen endgültigen Schock, denn noch nie hatte ich eine solche Schilderung der Macht des Todes und der Leere gesehen, und die Wucht Pascals in Bezug auf diese Themen bleibt für mich in der Literatur beispiellos. Es waren demnach drei Etappen: Also ja, mein Interesse an der Religion reicht doch ziemlich weit zurück, es lässt sich bis zu meinem neunten oder zehnten Lebensjahr zurückverfolgen.

Und heute? Sie haben sich in Interviews wiederholt als Atheisten bezeichnet, und in jüngerer Zeit, nach der Veröffentlichung von Unterwerfung, haben Sie sich als Agnostiker charakterisiert … Wie würden Sie heutzutage Ihre persönliche Beziehung zur Religion definieren?

Sie ist schwächer geworden, weil ich den Eindruck habe, dass es hoffnungslos ist: Ich werde nie glauben, ich werde immer zweifeln … darum habe ich etwas Abstand davon genommen.

Sie haben mehrfach von Konversionsversuchen gesprochen: Wie haben Sie sich das vorgestellt?

Die Konversion wirkt wie eine Offenbarung. Tatsächlich glaube ich immer, wenn ich zur Messe gehe; ich habe jedes Mal eine aufrichtige und absolute Offenbarung. Aber sobald ich draußen bin, fällt es wieder von mir ab. Es ist ein bisschen wie bei einer Droge: Es gibt immer einen Absturz. Letztlich habe ich mir gesagt, dass ich nun einmal so bin und nichts dagegen tun kann. Ich habe also weiterhin gelegentlich einen Anflug von Glauben, aber ich weiß, dass es nicht von Dauer sein wird.

In einem Interview von 1996 versichern Sie, dass »alles Glück seinem Wesen nach religiös« sei, und in Volksfeinde vergleichen Sie den Atheismus mit einem »nicht endenden Winter«: Würden Sie das heute noch so sagen?

Ja, ich bleibe dabei, dass alles Glück seinem Wesen nach religiös ist. Die Religion gibt uns das Gefühl, mit der Welt in Verbindung zu stehen, kein Fremder in einer gleichgültigen Welt zu sein – Pascal hat es besser ausgedrückt als ich. Wir haben Angst vor einer Welt, mit der wir keine Gemeinsamkeit empfinden, und die Religion verleiht der Welt und unserer Stellung in ihr einen Sinn.

Haben Sie sich je als katholischen Schriftsteller betrachtet (wie bestimmte Kritiker es mitunter getan haben)?

Nicht nur katholisch, auch jüdisch! (lacht) Doch, wirklich! Bei einer Begegnung mit Lesern in Israel stand einmal einer auf, um zu sagen, er habe nach der Lektüre meiner Bücher beschlossen, sein Leben zu ändern, und sei jetzt Rabbiner. Durch den Einfluss meiner Bücher … Es funktioniert also auch bei Juden! Eigentlich bin ich ein Schriftsteller des Nihilismus (Nihilismus im Sinne Nietzsches), da gibt es keinen Zweifel: Ich bin der Schriftsteller einer nihilistischen Ära und des Leidens, das mit dem Nihilismus einhergeht. Man kann sich also vorstellen, dass Leute bei der Lektüre meiner Bücher entsetzt zurückschrecken und sich in irgendeinen Glauben stürzen … um diesem, wenn ich das so sagen darf, so glänzend beschriebenen Nihilismus zu entkommen. Also ja: Ich bin katholisch in dem Sinne, dass ich dem Schrecken einer Welt ohne Gott Ausdruck verleihe … aber nur in diesem Sinne.

Sie haben über Unterwerfung gesagt, Ihnen habe ein Roman über eine Konversion zum Katholizismus vorgeschwebt, letztlich hätten sie sich aber entschlossen, sich mit einer Konversion zum Islam zu befassen: Können Sie erklären, was zu dieser Entwicklung geführt hat?

Ja: Das war ein persönliches Scheitern bei dem Versuch, selbst zu konvertieren, ein Scheitern vor der Schwarzen Madonna von Rocamadour. Und es hängt auch mit Huysmans zusammen, der in dem Buch eine große Rolle spielt. Denn für Huysmans – was ich jetzt sage, erscheint schwer zu glauben – ist die ästhetische Schönheit wirklich ein Glaubensargument; um ehrlich zu sein, ist es für ihn sogar das einzige: Er glaubt, weil es schön ist. Doch damit das funktioniert, damit die Schönheit Glauben hervorbringt, muss man es mit Menschen zu tun haben, die sich sehr am Ästhetischen orientieren, mehr als ich das tue: Selbst die Schwarze Madonna von Rocamadour, die äußerst gelungen ist – es gibt viele schöne religiöse Statuen, aber diese ist wirklich eine bedeutende Errungenschaft der abendländischen Bildhauerei –, hat bei mir nicht gewirkt. Man muss dazusagen, dass sie sehr alt ist: Die Romanik liegt sehr weit zurück, und in gewisser Weise fällt es uns schwerer, die Menschen des achten Jahrhunderts zu verstehen als die Ägypter. Ihre Kunst ist sehr fremdartig, sie vermittelt ein starkes Gefühl von Distanz. Also nein: Das war ein Fehlschlag. Darum habe ich beschrieben, wie meine Hauptfigur vor der Statue steht und dass es nicht funktioniert, dass sich der Höhenflug nicht einstellt.

Warum dann zum Islam übertreten? Und wie würden Sie die Darstellung des Islam in Ihrem Roman beschreiben?

Man kann eigentlich nicht wirklich sagen, dass es in Unterwerfung eine Darstellung des Islam gibt: Das ist das Schreckliche in diesem Buch, die meisten Figuren sind in Wahrheit gar keine Muslime. Sie erklären sich zu Muslimen, weil es ihnen zupasskommt, weil es ihnen Vorteile verschafft oder einen persönlichen Ehrgeiz befriedigt. Selbst der muslimische Präsident macht nicht den Eindruck, ein sehr gläubiger Mann zu sein: Ohne dass das ausdrücklich gesagt wird, kommt er einem eher wie ein Ehrgeizling vor, der auf die Islamkarte setzt.

Ist es also die politische Dimension des Islam, die Sie in Unterwerfung besonders interessiert hat? Würden Sie sagen, dass das für Sie das Spezifische dieser Religion ausmacht?

Nicht unbedingt, auch wenn es stimmt, dass der Islam auf politischer Ebene weit präziser ist als das Christentum. Im Koran werden das System der Erbteilung, die Frage der Mitgift, das Rechtssystem, die Strafen für die wichtigsten Verbrechen sehr genau beschrieben: In Bezug auf die gesellschaftliche Organisation ist alles sehr detailliert. Aber in den meisten politischen Fragen ist der christliche Standpunkt im Grunde nicht sehr schwer zu finden. Übrigens gibt es in Frankreich seit Kurzem eine ausdrücklich christliche Partei, eine Partei, die sich unmittelbar auf das Christentum beruft und die teils neuartige Standpunkte vertritt, manche eher links, andere eher rechts. Es gibt also auch eine christliche Politik: Das Christentum ist nicht politisch neutral, auch wenn diese Dimension dort weniger deutlich formuliert ist als im Islam.

Sie wurden oft der Islamophobie bezichtigt. Möchten Sie auf diesen Vorwurf antworten?

Ich denke, in praktischer Hinsicht bin ich ähnlich uneindeutig wie meine Figuren. Allerdings spüre ich, seit diese ganze Sache angefangen hat, die Verpflichtung, die Islamophobie zu verteidigen, ob ich nun selbst islamophob bin oder nicht. Denn das muss Teil der Meinungen sein, die man äußern darf … Punktum. Man hat das Recht, eine Religion anzugreifen. Also ja, ich fühle mich ungewollt zur Verteidigung der Redefreiheit gezwungen.

Es gibt noch eine weitere Religion, über die im Zusammenhang mit Ihnen weniger gesprochen wird, die in Ihren Romanen aber sehr präsent ist und mit der Sie im Allgemeinen milder umgehen als mit den übrigen, und das ist der Buddhismus. Was interessiert Sie am Buddhismus?

Das ist eine Religion, die selbst milder ist als die anderen! Anders, als man vermuten könnte, war es nicht Schopenhauer, der mich zum Buddhismus gebracht hat; es war vielmehr die Lektüre des Tibetischen Totenbuchs, das mich ziemlich beeindruckt hat. Man muss bedenken, dass ich schon ziemlich alt bin, ich habe also die letzten Hippies noch kennengelernt. Das Tibetische Totenbuch war in diesen Kreisen angesagt, und es ist wirklich ziemlich schön, ziemlich atemraubend: Es ist sehr visuell, sehr barock, und die Bilder sind von einer großen Poesie.

Sie haben sich für den Buddhismus also aus literarischer Sicht interessiert?

Ja. Schopenhauer muss ich kurz darauf gelesen haben – Schopenhauer ist ein interessanter Fall, denn er selbst hat den Buddhismus in Wahrheit kaum gekannt. Er hat hinduistische Texte gelesen, und weil es davon zu seiner Zeit wenige gab, hat er, um mehr zur Verfügung zu haben, am Ende seines Lebens selbst versucht, Sanskrit zu lernen, und hinduistische Texte 100 nach Art von Buddha ausgelegt. Er hat also in gewisser Weise auf anderen Grundlagen, ausgehend von der abendländischen Philosophie, den Weg Buddhas nachvollzogen; und Schopenhauers Philosophie führt auf ganz natürliche Weise zum Buddhismus.

Wenn ich Ihnen die Namen einiger Autoren oder Philosophen nenne, die Sie oft im Zusammenhang mit religiösen Fragen genannt haben, könnten Sie mir dann sagen, in welcher Weise Sie von ihnen beeinflusst wurden? Beginnen würde ich gern mit dem heiligen Paulus …

Ihm verdanke ich Lebendig bleiben. Das habe ich in einem Zustand starker innerer Erregung geschrieben, sehr von ihm inspiriert. Paulus ist nach wie vor einer der besten Autoren, die ich kenne, weil er extrem übermütig, extrem leidenschaftlich ist – man spürt, dass seine Nerven ständig bloß liegen, seine Sätze sind wie Peitschenhiebe, es ist wunderbar. Wir finden bei ihm eine Mischung aus Größenwahn und Klage, die ziemlich unvergleichlich ist. Und er ist aus diesem einfachen Grund ein großer Schriftsteller: Wenn ich ihn lese, habe ich das Gefühl, ihn dort, zwei Meter von mir entfernt zu sehen, ich spüre, wie er die Sätze hervorstößt. Also ja, das liebe ich tatsächlich noch immer. Letztlich hatte Paulus vielleicht den stärksten literarischen Einfluss auf mich: Bei ihm habe ich jene Seite entdeckt, die man mitunter als Punk bezeichnen könnte und die sich in Lebendig bleiben und Ausweitung der Kampfzone finden lässt.

Würden Sie sagen, dass Auguste Comte – in einer völlig anderen Gattung – für Sie ebenfalls von großer Bedeutung war?

Comte ist in mehrfacher Hinsicht interessant: Er ist derjenige, der in der vollständigsten und systematischsten Weise zum Ausdruck bringt, dass die Gesellschaft nach der Französischen Revolution ihre Grundlagen eingebüßt hat und dass sie auf lange Sicht ohne Religion nicht überdauern wird. Ich werde sein doch ziemlich kompliziertes Gedankensystem hier nicht ausbreiten, aber sagen wir, ich fand seine Konzepte äußerst überzeugend. Die Unterscheidung, die er beispielsweise zwischen einem organischen Zeitalter und dem metaphysischen Zeitalter trifft, dessen alleinige Funktion die Zerstörung ist, ist sehr zutreffend: Alles, was zwischen dem Beginn des Protestantismus und dem Beginn der Französischen Revolution geschehen ist, hatte nur ein einziges Ziel: die vorherige Gesellschaft zu untergraben. Das war von Erfolg gekrönt, die gesamte Gesellschaft ist zu einem Trümmerfeld geworden, ohne irgendeine Grundlage oder zumindest mit verhältnismäßig unbedeutenden Grundlagen wie dem Patriotismus – der schließlich nicht sehr ernst zu nehmen ist. Comte belegt all das mit wahrer intellektueller Kraft; er ist wirklich jemand, den ich bewundere. Zudem versucht er, den Grundstein für eine zukünftige Religion zu legen, die mit dem wissenschaftlichen Fortschritt vereinbar ist, und auch das hat mich stark beeinflusst, denn es ist die Grundidee von Elementarteilchen. Die Tatsache, dass die Wissenschaft ganz und gar positivistisch wird, dass es hinter den Gesetzen keine metaphysische Entität gibt, schafft in Wahrheit wieder die Möglichkeit eines religiösen Fundaments. Also ja, Comte ist einer meiner Haupteinflüsse.

Und Chesterton, den Sie in Karte und Gebiet erwähnen?

Um Comte zum Vergnügen zu lesen, so wie ich es tue, muss man schon ein bisschen pervers sein: Der Mann ist doch ziemlich oft dem Wahnsinn nah, seine Schreibweise ist manisch, er ist eine Maschine, die zeitweise verrücktspielt, die nicht mehr abschalten kann, was zu Passagen von unerträglicher Langeweile führt. Chesterton zu lesen, ist hingegen köstlich: Er ist humorvoll, witzig, brillant, und er äußert mitunter ziemlich tiefgründige Gedanken. Über Comte macht er beispielsweise die Bemerkung, die beachtenswerteste Idee des Positivismus sei die Erschaffung eines Kalenders gewesen; und tatsächlich ist die Neustrukturierung des Jahres, der Umstand, dass die Zeit nicht mehr neutral ist, sondern dass jedem Augenblick Bedeutung gegeben wird, grundlegend – denn durch die Strukturierung des Lebens erleichtert die Religion das Leben. Chesterton hat im Übrigen auch eine Idee formuliert, von der man nicht behaupten kann, dass ihr sehr viel Erfolg beschieden war, was jedoch schade ist: den Versuch einer christlichen Organisation der Wirtschaftswelt. Er verdient es, wieder gelesen zu werden: Chesterton positioniert sich darin gegen die großen Unternehmen, gegen die Industrialisierung, das ist interessant. Chesterton ist ein unverhohlener Katholik, und er macht den Katholizismus sympathisch, weil er sehr auf dem Gedanken beharrt, dass es sich um eine Religion der Inkarnation handelt: Man hat einen Leib, und ihm zufolge ist das eigentlich etwas Gutes.

Nietzsche und Schopenhauer? Was würden Sie zu dieser Frage sagen?

Nietzsche … Wenn wir beim Thema unseres Interviews bleiben, habe ich seine direkte Opposition gegen das Christentum nie geteilt.

Beruht Ihre Opposition gegen Nietzsche darauf?

Nein, denn ich war nie sehr gläubig; sie ist auf seine Anfechtung der Moral und des Mitleids zurückzuführen. Aber ja: Nietzsche rivalisiert mit Christus, er will als der siegreiche Rivale erscheinen … Gut, das ist eine Tollerei, die im Abendland weitverbreitet ist … Aber sagen wir einfach, Dionysos hat mich als Gott nie über- 104 zeugt, und er überzeugt mich noch immer nicht. Bei Schopenhauer ist es anders, er ist auch unverhohlener Atheist, aber er vertritt einen eher intellektuellen Atheismus – am Ende versucht er sogar, die Katholiken zurückzugewinnen, was ich als sympathischen Opportunismus betrachte: Er macht ihnen Avancen, obwohl er die monotheistischen Religionen sein Leben lang auf das Übelste beschimpft hat. Doch er hat sich am Ende seines Lebens in den Kopf gesetzt, dass der Katholizismus eigentlich gar keine monotheistische Religion ist – was nicht völlig falsch ist: Die Muttergottes und die Heiligen stellen Zwischengötter dar, die die Brutalität der im Judaismus und im Protestantismus existierenden Beziehung mindern.

Über Huysmans haben Sie bereits ein wenig gesprochen, aber möchten Sie noch einmal darauf zurückkommen?

Wenngleich ich Huysmans gern mag, glaube ich nicht, dass sein auf dem Ästhetizismus beruhender Weg der Konversion viele Menschen ansprechen kann. Aber von allen konvertierten Schriftstellern – und es hat nicht wenige von ihnen gegeben –, ist er gewiss derjenige, der am besten von seiner Konversion erzählt; und er ist in jedem Fall derjenige, der am meisten davon erzählt, es wird einem manchmal fast ein wenig lang, aber insgesamt ist es doch fesselnd: Beim Lesen von Unterwegs habe ich mich ernsthaft gefragt, ob er tatsächlich in sein Kloster gehen wird oder nicht, ob er konvertieren wird oder nicht … Es klingt nicht danach, wenn ich es erzähle, aber Huysmans kann wirklich thrilling sein! Ein spiritueller Thriller, im Grunde genommen.

Gibt es jemanden, den ich vergessen habe und der Ihnen noch wichtig erscheint?

Chateaubriand, würde ich sagen, denn Geist des Christentums ist ein erstaunliches Buch. Dieses Buch war auf Anhieb ein großer Erfolg – offenbar haben die eleganten Frauen von Paris zueinander gesagt: »Ach, so ist also das Christentum? Aber das ist ja köstlich!« (lacht) Chateaubriand ist es also gelungen, das Christentum in Mode zu bringen, was doch ein Kunststück ist. Das Buch ist nämlich sehr gut: Sein Stil sitzt; die Beschreibung des Todes des Christen als das erhabenste Schauspiel, das es auf Erden geben kann, ist wirklich lesenswert; und seine Analyse der gleichen Situation, die beispielsweise in der Bibel oder bei Homer behandelt wird, ist von großer Finesse … Bei der Architektur ist er nicht ganz so gut, das interessiert ihn offenbar nicht besonders, aber insgesamt ist es ein außerordentliches Buch. Ebenso die Darstellung der christlichen Ehefrau …

… der Sie ganz und gar zustimmen?

Oh, er übertreibt ein wenig, er trägt zu dick auf; aber es ist so gut, die Sätze sind so geglückt, dass man ihm eigentlich alles verzeiht.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts definieren sich einige Dichter wie beispielsweise Hugo oder Lamartine als säkulare Magier, als Propheten. Muss die Literatur Ihrer Ansicht nach in gewissen Aspekten die Funktionen übernehmen, die die Religion innehatte?

Das ist eigentlich vor allem Hugo … Gut, Lamartine auch ein wenig, aber er ging nicht so weit zu glauben, Shakespeare würde zu ihm sprechen. Er betrachtete sich weniger als Prophet denn als politischer Führer, was in seinem Fall übrigens genauso ulkig ist. In jedem Fall bin ich weniger größenwahnsinnig als sie: Ich betrachte mich nicht als säkularen Propheten. Wann immer man mir sagt, ich sei ein Prophet, verneine ich und erzähle, wie oft ich mit meinen Prophezeiungen danebenlag … Nein, nein, was das Prophetentum angeht, halte ich mich eher bedeckt.

In einem Interview haben Sie gesagt, die Poesie sei »dem Göttlichen nah«. Würden Sie sagen, dass die Poesie eine enge Verbindung zur religiösen Rede hat?

Ja, natürlich. Es gibt da eine starke Gemeinsamkeit, nämlich dass in der Poesie kein Widerspruch existiert: Sie ist ein absoluter Diskurs, der die Ambition hat, nicht zu negierende Sätze zu formulieren. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass ein totales Verständnis nicht unerlässlich ist: Man muss religiöse Rede nicht verstehen, so wie man nicht zwingend alles verstehen muss, wenn man ein Gedicht hört. Und im Übrigen finden in den Religionen auch Texte Verwendung, die einen echten poetischen Wert haben: gewisse Psalmen beispielsweise. Also ja, es gibt da eine starke Verbindung.

Der letzte Teil Ihrer Gedichtsammlung Non réconcilié (»Unversöhnt«) ist mit »La grâce immobile« (»Die unbewegliche Gnade«) überschrieben und schließt mit einem Gedicht, dessen erste Strophe so beginnt: »Dans l’abrutissement qui nous tient lieu de grâce« (»In der Stumpfheit, die uns als Gnade dient«). Was bedeutet diese »Gnade« für Sie? Welchen Platz räumen Sie ihr in Ihrem Werk ein?

Das weiß ich nicht; aber ich weiß, dass in meinem Leben die Gnade tatsächlich nicht sehr weit vom Stumpfsinn entfernt ist. Sagen wir, ich denke zu viel nach, ich bin zu ängstlich – nicht in praktischen Dingen, aber in allgemeiner Hinsicht: Ein Zustand der Abstumpfung ist daher eine gewährte Gnade.

Gibt es in dieser Form der Gnade noch etwas, was religiöse Züge hat, oder nicht?

Nein, nicht unbedingt. Schopenhauer zum Beispiel betrachtet all das in einem Rahmen, der überhaupt nicht religiös ist. Der einzig gangbare Weg ist für ihn die Kontemplation, also die Versenkung in einen Gegenstand, ohne irgendeinen bewussten Gedanken zu formulieren. Tatsächlich ist er auch mit dieser Sichtweise buddhistischen Methoden offen gestanden sehr nah. Es ist daher eine Form der Gnade, die mit Weltflucht zusammenhängt, die Kontemplation ist also beglückend, aber es steht kein Gedanke an Gott dahinter. Gut, sagen wir, es gibt da wahrscheinlich einen Bezug zur Religion, aber überhaupt nicht zur abendländischen Religion.

In Plattform findet sich dieser Satz: »Womit lässt sich Gott vergleichen? Zunächst natürlich mit der Möse einer Frau. Sie haben in Ihrem Werk sehr oft Sex und Religion verknüpft: Ist das reine Provokation Ihrerseits?

Nein. Es ist eine männliche Sichtweise, aber es ist keineswegs eine Provokation. Man muss bedenken, dass die ältesten von bestimmten primitiven Völkern verehrten Darstellungen männliche oder weibliche Geschlechtsorgane sind (vor allem jedoch weibliche, und das hat wahrscheinlich weniger mit Sex zu tun als mit der Fähigkeit, Leben zu schenken). Und auch wenn sie sehr alt sind, glaube ich nicht, dass die Tatsache, dass die Menschheit sich weiterentwickelt, die früheren Zustände auslöscht: Diese Zustände bleiben unterschwellig vorhanden. Sie sind von vielen übereinanderliegenden Zivilisationsschichten bedeckt, bleiben aber potenziell aktiv. Es ist also keine Provokation: Man muss das wirklich ernst nehmen.

Würden Sie sagen, im Bereich des Romans hat Ihr Werk von Ausweitung der Kampfzone bis Unterwerfung bezüglich der Auseinandersetzung mit dem Religiösen eine Entwicklung durchlaufen?

Es gibt tatsächlich einige Etappen: Zwei meiner Romane sind schließlich von der auf Comte beruhenden Idee geprägt, dass eine neue Religion notwendig ist, dass es in jedem Fall eine Religion brauchte, die mit dem Stand der Wissenschaft vereinbar ist. Am Ende war ich schlicht von dieser offenkundigen historischen Tatsache erschüttert: dass Comte selbst nämlich komplett gescheitert war. Denn er hat wirklich ernsthaft versucht, eine neue Religion zu begründen, er hat Proletarier im positiven Glauben getauft etc., und das hat nicht funktioniert. So bin ich zu dem gelangt, was den Grundstoff von Unterwerfung bildet, dass es nämlich, sofern keine neue Religion entsteht, sehr gut sein kann, dass eine alte erwacht.

Sind die Spuren der Science-Fiction, die Ihr Werk und vor allem Ihre Romane durchziehen, Ihrer Ansicht nach an die Auseinandersetzung mit dem Religiösen gebunden?

Ja, zumindest glaube ich, dass das einer meiner Einflüsse ist; aber gut, man muss schon ein eifriger Leser von Science-Fiction sein, um das zu erkennen, denn in der Science-Fiction wird das Thema der Zukunft der Religionen nur von sehr wenigen Autoren behandelt. Aber es gibt dennoch einige, die sich die Religionen der Zukunft auszumalen versuchen: Lafferty hat das zum Beispiel getan. Doch lassen Sie uns nicht davon reden, denn diese Leute kennt niemand.

In einem Interview haben Sie gesagt, die Geschichte von Christus habe Sie »immer fasziniert, vor allem das von ihm vorausgesehene und angenommene Opfer, die Tatsache, dass er die Sünden der Welt auf sich genommen hat«. Und in Volksfeinde äußern Sie die Behauptung, Ihr Schicksal habe eine christliche Wendung genommen. Was bringt Sie zu dieser Aussage? Ist es dieses Opfer, in das der Schriftsteller einwilligen muss?

Ja, das ist ein Aspekt der Tätigkeit – Arbeit kann man es nicht nennen. Sagen wir, zum Schreiben – zumindest so, wie ich es verstehe – gehört es, das Negative auf sich zu nehmen, alles Negative in der Welt, und eine Darstellung davon zu geben, sodass der Leser Erleichterung darin findet, diesen negativen Teil zum Ausdruck gebracht zu sehen. Zugleich läuft der Autor, der es auf sich nimmt, es zum Ausdruck zu bringen, offensichtlich Gefahr, von diesem negativen Teil der Welt vereinnahmt zu werden. Tatsächlich ist es das, was das Schreiben zu einer mitunter schwierigen Tätigkeit macht: der Umstand, dass man all das Negative aufnimmt. Und da gibt es in der Tat einen Bezug zu Christus, der die Sünden der Menschheit auf sich nimmt. Also ja, es ist eine Tatsache, es gibt da eine Ähnlichkeit … das ist doch ein gutes Fazit, oder?

Agathe Novak-Lechevalier lehrt Literaturwissenschaft an der Université Paris X Nanterre. Sie führte dieses Interview, dasAnfang Dezember bei DuMont in Michel Houellebecqs Essayband "Ein bisschen schlechter" erschien,  im April 2017 im Rahmen der Noche de los libros in Malaga.